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Ausgehen und rumstehen von Katja KollmannAufmachen und reinfließen lassen

Foto: privat

Ich arbeite mich ab an Richard Wagner. Dazu hat man in dieser Stadt Gelegenheit genug. Zwei der drei Opernhäuser werfen in schöner Regelmäßigkeit Neuinszenierungen von Wagners üppigen Oeuvre auf den Markt. Den kompletten „Ring der Nibelungen“ habe ich mir in der letzten Spielzeit in der Staatsoper gegeben. Ich bin an dem Horror-Libretto schier verzweifelt.

„Richard, da hätte mal jemand drüber lesen sollen, sprachlich ist das echt nicht das Gelbe vom Ei“, sende ich aus der Staatsoper in das Nirgendwo, in dem ich Wagner etwas naiv vermute. Neben mir spüre ich die negative Aura der Wagner-Jünger. Sie lehnen die pathosfreie Inszenierungdes russischen Regisseurs Dmitri Tscherniakow ab. Für mich aber ist sie der Hit, weil sie mir Siegfried und Konsorten näher bringt.

Vom „Fliegenden Holländer“ habe ich in den letzten Jahren drei verschiedene Inszenierungen gesehen. Sogar die überJahrzehnte wagnerfreie Komische Oper ist auf den Zug aufgesprungen und hat Murmel-Murmel-Regisseur Herbert Fritsch mit dem Farbpinsel auf den Holländer losgelassen.

Und jetzt also die Wiederaufnahme vom „Holländer“ in der Deutschen Oper. Ich war vor gut einer Woche drin und habe das erste Mal jegliche Distanz verloren zu Senta, der weiblichen Hauptfigur. Die vierte Wand zwischen mir und der Bühne war komplett weg, alle Kanäle waren offen. Die Arie, in der Senta die Legende vom fliegenden Holländer erzählt, dem ewigen Wanderer auf den Meeren, der auf Erlösung hofft, war so genial choreographiert, dass ich Gänsehaut hatte. Seit einer Woche also interessiere ich mich für Senta.

Deswegen stand ich am Samstag um vier Uhr vor der Tischlerei, der Studiobühne der Deutschen Oper, bereit für die „Extended version: The Flying Dutchman“. Zehn Stunden „fliegender Holländer“ waren angekündigt, obwohl die Oper nur schlappe zwei Stunden fünfzehn dauert. Ich war bis halb drei in der Früh da. Unterstützt vom Dönerladen an der Deutschen Oper, der super Falafel zum erträglichen Preis anbietet, und Rewe-City, um mich mit Radler einzudecken. Als überfallartig ein Techno-Dancefloor über mich gestülpt wurde, wollte ich gehen. Aber das Abendpersonal, gesetzte Herren im Anzug, machte mit seiner natürlichen Autorität mächtig Eindruck auf mich. Ich wollte sie nicht allein lassen mit dem DJ und war wieder drin. Als sie dann auch noch mit einer Grandezza, die in dieser Stadt seinesgleichen sucht, Pizzakartons und Bierdosen, die vorher verteilt wurden, einsammelten, war ich entwaffnet.

Zweiter Höhepunkt der Wagner-Sause war das kleine Singspiel um kurz vor halb elf im Setting des U-Bahnhofs Deutsche Oper. Man spielt das Opern-Publikum, spricht im Holländer-Libretto-Ton, zitiert Gianni Versace und fragt sich, warum man immer wieder traurige Lieder hören will. Die U-Bahn ist der fliegende Holländer, die Tunnel sind das Meer und als Dreingabe gibt es die berühmte Holländer-Arie – bevor der Dancefloor alles tot walzt. Am Sonntag folgte ein Wagner-freier Tag voll mit neuer Musik im Kunstquartier Bethanien. Die Klangwerkstatt rief in die ehemalige Kapelle des früheren Diakonissen-Krankenhauses.

Extrem hohe Decken, neogotische Elemente, alles weiß getüncht. In diesem Wahnsinns-Raum beamte mich das Ensemble Radar aus Lübeck in eine komplett andere Dimension. Katrin Bethge flutete den Raum mit Gemälden, die in sich fließen. Die MusikerInnen interagierten analog und elektronisch mit diesen am Overhead-Projektor live erzeugten Bildflächen; so entstand ein spannend störrischer Klangteppich mit kleinen Humor-Inseln.

Mit Grandezza sammelten sie Pizzakartons und Bierdosen ein

Ich machte auf, ließ das alles in mich rein und beobachtete, wie die Zeit zeitlos wurde. Nach einer guten Stunde war dieser ziemlich geniale Zustand vorbei. Ich ging die Treppe runter zum Restaurant „Drei Schwestern“ und bestellte mir einen Latte Macchiato. Im Foyer schaute ich noch einmal zu den Fresken hinauf, in denen zugewandte Frauen sich um Kinder kümmern, und trat hinaus in die Kreuzberger Nacht.

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