Ausgehen und rumstehen von Hilka Dirks: Ein Versprechen auf eine Zukunft ohne Chef
Die Stadt ist voll und heiß wie im Juni. In Neukölln schlendern Männer, die denken, sie seien Jungs, in kurzen Hosen und seit dem Morgen mit Bier in der Hand durch die Seitenstraßen. Vor den Cafés sitzen geblümte Frauen mit glänzenden Haaren und großen Sonnenbrillen, in der Ferne blinkt Blaulicht zwischen hellem Lindengrün. Es riecht nach Pfirsichsaft und Hundepisse, ein Polizeihubschrauber rüttelt am Himmel.
Es ist der frühe Abend des Ersten Mai. Beim Versuch, per Fahrrad nach Westen zu kommen, gebe an den ersten Polizeiabsperrungen auf, und steige stattdessen in die merkwürdig leere U7. Früher roch es am Tag der Arbeit nach Tränengas und verbranntem Plastik, doch davon ist diesmal nichts zu spüren. Barista-Barista Antifascista, denke ich, während sich der Waggon durch den Tunnel drückt. Einen Umstieg später spuckt mich die Fahrt am Wittenbergplatz wieder aus. F. steht schon dort und fällt mir um den Hals, wir gehen Arm in Arm ins KaDeWe, dessen Schaufenster anlässlich des Gallery Weekends vom Kurator Sebastian Hoffmann mit zum Teil höchst sehenswerter Kunst bestückt wurden. Ware ist halt Ware, und auch wenn es sie diesmal eigentlich nicht im Kaufhaus des Westens zu kaufen gibt, so passt sie doch unangenehm gut an diesen Ort, in diese Stadt, zu genau dieser Zeit, in der die Kultur eh zum Luxus schlechthin wird.
„Es ist so, als ob wir auf einem Museumsbesuch in der Zukunft wären: So haben die Menschen früher geshoppt“, sagt F., während wir auf Rolltreppen vorbei an wegen des Feiertags geschlossenen Etagen in die Gastronomieetage schweben. Als Kind war es dort der Inbegriff der begehrenswerten Erwachsenenwelt für mich. Zweimal im Jahr kam meine Patentante zu Besuch, eine laut lachende Unternehmerin im kosmopolitischen 90er-Jahre-Business-Stil zwischen Postmoderne und New Wave. Sie roch nach Chanel, lud mich in „die Sechste“ zu Krabbencocktails und Schokotarte ein und brachte mir bei, dass man sich auch als Frau einfach alles selbst kaufen kann, ohne um Erlaubnis zu bitten. Paradoxerweise war ihr Konsum für mich Ausdruck absoluter Freiheit. Das chromglitzernde Design des Kaufhauses als ein Versprechen auf eine Zukunft ohne Chef, aber mit knallrotem Lippenstift.
Nun quetschen sich geschmackssichere Menschen in der genau richtigen Kleidung in den abgetrennten Eventbereich der Austernbar, die durch den Umbau so seelenlos wie ein internationaler Flughafen geworden ist. Das Versprechen war leer: Hallo Welt. Luftküsse und Gossip werden mit süffigem Atem verteilt, Weißwein zu den rohen Schalentieren gereicht. Weiter hinten gibt es natürlich auch Currywurst und Bier in exaltierten Gläsern: Dit is Berlin, wa? Die Stimmung ist vorhersehbar glänzend bei den Gästen und verständlicherweise mies beim Personal.
Als wir uns nach einer Stunde von den Kunstmassen lösen und wieder auf die Straße treten, leuchtet Christian Jankowskis „Luftschloss“ rötlich im Fenster hinter meinem Rücken. Es ist die in eine Neoninstallation übersetzte Zeichnung des Poliers der Baustelle für das Museum des 21. Jahrhunderts, Andreas B.: „Lieber Arbeiter, bitte zeichne mir das Schloss deiner Träume“, war laut Ausstellungstext die Aufforderung. Nun hängt es hier im Konsumtempel der alten BRD, im kaputtgebauten Sehnsuchtsort meiner Kindertage. Zurück in der U-Bahn starre ich mit unentschlossenen Gefühlen im Kopf vor mich hin. Im Berliner Fenster verkündet Die Welt von der Revolutionären Ersten Mai-Demo: „Journalisten von Demonstranten als Kapitalistenschweine beschimpft.“ Und auch ganz ohne Springer-Hintergrund bin ich heute wohl mitgemeint.
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