■ Aus polnischer Sicht: Alle haben es gewußt, wir nicht
Keine Gnade für die Opfer, sehr wohl aber für die Täter: Deutsche Kriegsverbrecher verbringen traditionell ihren Lebensabend in Südamerika. So auch Herr Honecker, der Mauermörder, Aggressor von 1968 und Kriegshetzer von 1980. Der Rechtsstaat wurde im Honecker-Prozeß mißbraucht: von den Medien, den Rechtsanwälten, den Autogrammjägern. Für die westdeutsche Öffentlichkeit war es ein Spektakel, für die deutsche Justiz eine Gelegenheit, menschliche Gefühle zu zeigen. Mitleid ist jedoch eine moralisch-ethische Kategorie, die mit dem Recht nichts zu tun hat.
Die Tatsache, daß sich das Verfassungsgericht ausgerechnet bei Honecker zu einer Präzedensentscheidung (in diesem Fall war das eine Präzedenzentscheidung) entschlossen hat, kann für die Opfer nicht verständlich sein. Daß Honecker nach der Operation in Chile noch lange Jahre sein besseres Wissen verbreiten wird, scheint sehr wahrscheinlich. Das Leben und die Gesundheit seiner Opfer läßt sich nicht mehr zurückoperieren.
Er wußte es schon immer besser: 1953, 1961, 1968 bei der tschechoslowakischen Krise, vor allem aber 1980 bei der polnischen Krise. Er wird sogar von den deutschen Wissenschaftlern dafür gelobt, daß er schon damals die Lage richtig einschätzte.
Die deutschen Wissenschaftler der FU-Forschungsgruppe „SED-Staat“ wissen es ganz genau: „Die SED erkannte, in Polen ging es der Opposition nicht nur um die Reformen, sondern um die Abschaffung des Sozialismus.“ Und die deutschen Kommunisten wußten, daß man in Polen militärisch eingreifen müsse. Und genauso wie es der deutsche Bundeskanzler Schmidt akzeptierte, daß eine militärische Intervention zum Schutze der Interessen der sowjetischen Supermacht notwendig sein könnte, und wie auch der Superintendent Stolpe wußte, daß die deutsche Kirche eine Intervention akzeptieren würde, und wahrscheinlich wußte es auch – aus dienstlichen Gründen – der Superstar Heiner Müller, und, und, und... Nur die doofen Polen wußten damals noch nicht, daß sie den Sozialismus abschaffen wollten. Sie glaubten, daß sie für eine gerechte Gesellschaft kämpften und daß sie ihre Revolution aus geopolitischen und auch innenpolitischen Gründen selbst beschränken müßten.
Zum Glück gibt es Besserwisser, die manchmal irren. Piotr Olszowka
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