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Aus der ZwischenzeitTamagotchis disziplinieren

■ Abschließende Gedanken zum Frühlingsanfang mitten im Winter

Kurz vor Weihnachten beginnt die Traumzeit des Jahreswechsels, in der man sich verpflichtungslos im Ungefähr treiben läßt. Die notdürftig durch Arbeit zusammengeflickte Routine der Tage bricht auseinander, um einem Dazwischen Platz zu machen, in dem man sich seine winterabschließenden Gedanken macht, weil draußen grad der Frühling angefangen hat. Dieser Winter ist so ähnlich wie eine WM, bei der die eigene Mannschaft furios startete, um dann doch früh auszuscheiden.

Am 18.11., als ich nach dem Deutschland-Holland-Spiel (1:1) ins „Bergwerk“ fuhr, um den Surfpoeten zuzuhören, hatte der Winter angefangen. Michael Stein trug „das Shirt eines toten Polizisten“, draußen schneite es flauschige Flocken, und eine Freundin erzählte von einem Projekt, an dem sie mit einem Künstlerfreund arbeiten würde. Sie sammelten ausgefallene Sexbilder aus dem Internet, um daraus ein avantgardistisches Sexbilderbuch zu machen. Im Internet gebe es zum Beispiel Anbieter, die sich auf Sexbilder von Frauen mit Gipsbein spezialisiert hätten, sagte sie. Die Hauptstraße sah ein paar Tage später auch so aus wie bei Dostojewski, und es hatte etwas Weihnachtliches, im McDonald's in der Potsdamer Straße mit einem Junkiepärchen herumzustehen und Cheeseburger zu essen. Dann hatte es sich aber plötzlich mit dem Winter, und nun ist Frühling, und plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob es zu oder an Weihnachten heißt.

An Weihnachten jedenfalls fahre ich nach Schleswig-Holstein, um bei meiner Schwester und den zwei Nichten den Heiligabend zu begehen. Meine Eltern kommen auch. Man fährt wegen der Kinder, weil die so nett sind. Man wird wahrscheinlich nicht mehr fahren, wenn man selber welche hat. Bezeichnet werden die FamilienweihnachtsfestteilnehmerInnen aus der Perspektive der jüngsten Generation. Meine Eltern sind in erster Linie nicht mehr meine Eltern, sondern „Opa“ und „Oma“; meine Schwester ist „Mutti“, mein Schwager „Papa“. So nennen sie sich auch selber und gegenseitig, wobei das bei meiner Schwester und ihrem Mann schon etwas durchlässiger geworden ist.

Sie heißen also auch „Karin“ und „Harald“. Sehr selten werden meine Eltern von meinen Nichten auch „Huschel“, „Günter“ oder „Elvira“ genannt. Dabei lachen sie, weil es komisch ist, den Großeltern individuelle Namen zu geben. Weil Onkel nicht mehr so üblich ist, laufe ich im Familienkreis oft unter dem Niedlichkeitsnamen, mit dem mich meine Mutter als Kind anzureden pflegte. Naturgemäß ist mir das peinlich. Vermutlich wird das gemacht, um mich dazu zu provozieren, Kinder zu machen. Dann würde das wohl wegfallen zur Belohnung.

Wir essen Kartoffelsalat mit Würstchen; wir sitzen auf dem Boden und spielen das Maulwurfsspiel. Jemand sagt: „Du mußt jetzt mal das Tamagotchi disziplinieren!“ Meine Schwester ist Krankenschwester und Diabetesberaterin. Sie erzählt von einem Patienten, dessen Mutter kürzlich einen Herzinfarkt hatte. Und der sagte: „Was soll denn jetzt aus mir werden? Wer soll mir denn jetzt das Essen machen?“ Der Mann war fünfzig, die Mutter achtzig! Viele Männer, vor allem in Berlin, leben noch bei ihrer Mutter. Das wird von den Medien im allgemeinen ignoriert. Mein kleiner Bruder ist 33, arbeitet in der Verwaltung und wohnt auch noch zu Hause. Er hat sich unter dem Vornamen „Lolli“ ins Telefonbuch eintragen lassen. Seiner Ansicht nach hätten die Menschen das Buch „Momo“ zwar gelesen, doch die darin vertretenen Thesen nicht verstanden, sagt er.

Später trinken wir roten Krimskoje-Sekt. Dann sind die Kinder im Bett. Wenn Jenny nicht einschlafen kann, aktiviert sie das „Traumpulver“, das in ihrem Kopf drin ist. Im Weihnachtszimmer spricht meine Mutter über ihre Kriegskindheit und Flucht. Das tut sie vermehrt seit der Wende. Seitdem fährt sie jedes Jahr in ihre Heimatstadt in der Niederlausitz und trifft sich dort mit ehemaligen Schulfreundinnen. Die Leute in Forst seien nicht so gut auf Ausländer zu sprechen, sagt sie. Gut gelaunt stricken wir Wollreste weg. Wolldecken werden geplant, Pulsdecken ausgeführt.

Ich schlafe im Wohnzimmer auf dem Sofa. Um halb sieben am ersten Weihnachtstag kommt meine kleine Nichte Jenny und weckt mich. Dann gucken wir schön fern vor dem Frühstück. Später erzählte mir Jenny von ihrem Traum. Da sei sie im Gummibärchenland gewesen. „Ich war auch ein Gummibärchen. Da kam so ein dicker Junge und fraß uns alle auf.“ Dann fragte sie, von wem ich lieber aufgefressen werden würde: „von einem Wellensittich oder einem Hai?“ Die richtige Antwort heißt: „Von einem Hai natürlich. Da geht's schneller.“ Detlef Kuhlbrodt

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