Aus der Literataz: "Über die Armengesetze": Armut als Charakterdefizit
Manches ändert sich nie: Joseph Townsend diskutierte 1786 die Frage, ob man die Armen hungern lassen sollte. Ist er ein Vorläufer von Thilo Sarrazins Thesen?
![](https://taz.de/picture/275301/14/photocase4wrg7has51896921_stay_hungry.20110317-19.jpg)
Als Thilo Sarrazin als Sparmaßnahme den Armen empfahl, häufiger mal kalt zu duschen, weil "ein Warmduscher im Leben noch nie weit gekommen" sei, da trat er im Selbstversuch den Beweis an, dass auch Deutschlands Elite unter der nur noch rudimentär zu vererbenden Intelligenz zu leiden hat, die Sarrazin bei den Hartz-IV-Empfängern diagnostiziert hatte. Sarrazin steht hier in einer jahrhundertealten Tradition, denn schon 1786 erschien ein Pamphlet "Über die Armengesetze".
Wie für Sarrazin war auch für den zunächst anonymen Verfasser der Schrift, Joseph Townsend, Armut selbstverschuldet und ein charakterlicher Mangel. Und auch Townsend unterscheidet zwischen den "Fleißigen", die hart arbeiten und kärglich leben, und den "unwürdigsten Subjekten", denen "die üppigste Unterstützung" gewährt wird.
Weil dieser Argumentation nur ein geringes Begreifen vom Funktionieren einer Gesellschaft zugrunde liegt, also ein Verständnis dafür, wie Armut entsteht und generiert wird und welche notwendige Rolle sie in der Politik spielt, muss alles auf der Ebene der Moral verhandelt werden. "Wo man Brot ohne Last und Mühe erwerben kann, führt der Weg über Müßiggang und Faulheit zur Armut", behauptet Townsend, und weiter: "Im Allgemeinen kann nur der Hunger sie anspornen und zur Arbeit treiben; doch unsere Gesetze diktieren: Hungern sollen sie nicht."
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Auch Karl Marx fiel dieses Pamphlet auf, über das es im ersten Band des "Kapitals" heißt, in ihm werde "die Armut als notwendige Bedingung des Reichtums" in grober Weise verherrlicht.
Bei Townsend ist bereits die Transformation ausformuliert, die ein rein auf Moral gestütztes Argument vollzieht, denn es wird genau der zivilisatorische Fortschritt einer Gesellschaft mit dem Anspruch, den Hunger abzuschaffen, als deren Schwäche interpretiert.
Man muss seine Fantasie nicht übermäßig strapazieren, um sich denken zu können, worauf die Ideologie Townsends hinausläuft und wie Philipp Lepenies, der Herausgeber, im umfangreichen Nachwort schreibt, nimmt Townsend in seiner Streitschrift folgende "drei Schlüsselgedanken der kommenden Epoche vorweg: das Bevölkerungsprinzip von Thomas Robert Malthus, die Idee der natürlichen Selektion von Charles Darwin und vor allem den Glauben, dass sich selbst regulierende Märkte ein universelles Organisationsprinzip in Natur und Gesellschaft sind".
1729, ein gutes halbes Jahrhundert früher, erschien bereits eine treffende Kritik an Townsend. Jonathan Swift machte damals einen "bescheidenen Vorschlag", wie sich mit dem Problem der Armen umgehen ließe. Die 120.000 Kinder armer Eltern sollten ein Jahr lang gesäugt werden, um dann "geschmort, gebraten, gebacken oder gekocht" als "nahrhafte und bekömmliche Speise" für die Allgemeinheit nutzbar gemacht zu werden. Eine grandiose Satire, die den gelehrten Ton solcher Abhandlungen wie den von Townsend ganz wunderbar auf die Schippe nimmt.
Joseph Townsend: "Über die Armengesetze. Streitschrift eines Menschenfreundes", Aus dem Englischen von Christa Krüger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 123 Seiten, 10 Euro.
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