: Aus Brat-Grün wird Beige
Überall ist vom Vibe Shift die Rede, der auch die Modewelt erreicht. Konservative Ästhetiken prägen Social Media, Laufstege und Modemagazine. Warum wir modisch trotzdem noch nicht verloren sind
Von Ann-Kathrin Leclère (Text) und Carmen Seils (Illustration)
Es ist Sommer, die Röcke sind kurz, die Fingernägel glitzern, wir sind laut, frech und fühlen uns fotzig – ach warte mal, das war ja voriges Jahr. Öffnen wir dieses Jahr die Kleiderschränke der Welt, von Social Media oder den Modemagazinen, kriechen die biedere Vorstadthausfrau aus den 90ern und der Golf-spielende Architektensohn wieder aus dem Staub und wickeln uns in ein eierschalenfarbenes Kaschmirjäckchen. Stand voriges Jahr der Sommer noch unter dem Motto der Frechheit, sind diesen Sommer mit den Temperaturen auch die Gemüter unterkühlt. Was ist nur mit dem Brat Summer passiert?
Die kurze Antwort: Der Widerstand gegen jahrzehntelange emanzipatorische Kämpfe für queere Sichtbarkeit und intersektionalen Feminismus ist gewachsen. In Politik, Medien und der nonverbalen Kommunikation der Mode: Der Diskurs hat sich verschoben. Der Konservatismus hat – hübsch verpackt zu jedem Anlass und algorithmusfreundlich – die Modewelt infiltriert. Und dabei ist der gut gekleidete Mainstream so weiß und so schlank wie lange nicht mehr.
Um diesen Wandel zu beschreiben, wird gern ein Begriff bemüht, der dem selbst ernannten Trendvorherseher und Journalisten Sean Monahan zugeschrieben wird: Vibe Shift, also eine tiefgreifende Verschiebung im kollektiven ästhetischen Empfinden darüber, was ‚in‘ist. Das Aufkommen und genauso schnelle Abebben der Indiekultur zu Beginn der 2000er zum Beispiel.
Und jetzt sollen wir also wieder mittendrin stehen in so einem Vibe Shift. Das Ende der Ampelkoalition sei Folge eines weltweiten Vibe Shifts im Denken und Empfinden in der Politik, sagte der schottische Historiker Niall Ferguson nach der Wahl von Trump im Frühjahr. Die Chatgruppen der Tech-Bros hätten den Vibe Shift ins Silicon Valley gebracht, erörtert der Deutschlandfunk in seinem Podcast „Tech Bro Topia“. Social Media befinde sich in einem nie dagewesenen Vibe Shift, schreibt der Social Media Watchblog.
Ein Wandel, der sich letztlich auf Stoff und Träger:in niederschlägt: Nicht die vielfältige, sondern eine angepasste Gesellschaft scheint heute das Leitbild zu sein: angepasste Körper (dünn), angepasste Geschlechterrollen (sie kocht), angepasste Kleidung (bloß keine grellen Farben mehr). Die Looks des Moments? Clean Girl, Tradwife, Old Money. Allesamt Ästhetiken, die sich auf gepflegte Langeweile, auf Wohlstand ohne Protest, auf Weiblichkeit ohne Widerstand einigen.
Unter dem Hashtag #SkinnyTok erlebt das Körperbild der 90er (krankhaft dünn) sein Comeback. Der Hashtag wurde zwar von Tiktok auf Druck der EU gesperrt, aber viel Unterschied macht das auch nicht. Die Botschaft lebt weiter, auch befeuert durch das Medikament Ozempic. Ursprünglich gegen Diabetes entwickelt, wurde es inzwischen zur Lifestyle-Spritze umetikettiert, Influencer:innen wie Sascha und Jule Lobo sprechen öffentlich über die Nutzung.
Auf Social Media bekommen traditionelle Rollenbilder ein Rebranding: Die Influencerin Nara Smith kocht für 11 Millionen Follower in dafür ungeeigneten Rüschenkleidern und Absatzschuhen für ihre Kinder, inszeniert in butterweichem Licht. Sie wird dem Trend der Tradwife, also der modernen Interpretation der traditionellen Ehefrau, zugeschrieben. Auch einer großen Follower-Anzahl erfreut sich Hannah Neeleman. Sie kümmert sich in ihrer „Ballerina Farm“ in Utah um ihre acht Kinder, saubere Kleider und konservativen Content. Das verschwörungsideologische und rechtskonservative US-Lifestyle-Magazin Evie zeigte die Influencerin auf dem Cover der 2024 Ausgabe. Zu den Tradwifes gesellen sich außerdem sogenannte Christfluencer: junge und meist weiße Menschen mit gerappten Bibelversen und minimalistischen, traditionellen Kleiderschränken. Es ist ein Lifestyle-Konservatismus, der so harmlos wirkt, dass man fast vergisst, wie reaktionär er ist.
Dass sich dieser Wandel auch in der Werbewelt durchsetzt, zeigt zum Beispiel American Eagle. Letztes Jahr brachte die Marke noch eine Pride-Kollektion mit dem Slogan „Mal deinen eigenen Regenbogen“ heraus. Dieses Jahr setzt sie in der Kampagne „Sydney Sweeney has great jeans“ – ein Wortspiel mit „Jeans“/„genes“ – lieber auf die Blond-blauäugige Euphoria-Schauspielerin. Die Kamera gleitet über ihren Körper, während eine säuselnde Sweeney erklärt, dass Gene von den Eltern an die Nachkommen weitergegeben werden. Neben der offensichtlich gewollten Sexualisierung sehen hier viele einen eugenischen Unterton, da „gute Gene“ mit einer weißen, normschönen Amerikanerin gleichgesetzt werden.
Das führte zu Empörung, doch vor allem zeigt die Kampagne: Die Windrichtung hat sich gedreht. Marken wittern Profit im gepflegten Rückzug, eine weiße, normschöne Schauspielerin ist da einfach „sicherer“. Marc Jacobs lässt einfach gleich Foodfluencerin Nara Smith für sich Werbung machen, H&M serviert dieses Jahr eine Spätsommerkollektion in Schwarz, Weiß, Beige und – ganz gewagt – einem gedeckten Orange. Die Jugendmarke New Yorker setzt gerade unter dem Motto „Mia san fresh“ mit Dirndl und Lederhosen auf Oktoberfestästhetik, „um sowohl traditionell als auch modisch aufzutreten“. Prost! Auch auf dem Laufsteg wird die Vielfalt kleiner: Kate Moss, Ikone des „Heroin Chic“ aus den 90ern, hat eine neue Linie bei Zara. Kaia Gerber, Körpermaße Size Zero, ist Kampagnengesicht von Mango. Bodypositivity war einmal, so scheint es.
Was besonders gefährlich ist: Rechte Bewegungen kapieren das. Sie arbeiten sich nicht nur an Mode ab – sie machen sie selbst. Laut der Kulturwissenschaftlerin Elke Gaugele gibt es in Deutschland aktuell über 90 rechte Modemarken. Das habe sie so nicht kommen sehen, sagt Gaugele in einem Interview in der Vogue. Sie bedienen dieselbe Ästhetik wie große Brands: clean, minimalistisch, schön – aber mit subtiler bis offener rechter Botschaft. Dabei kommen sie manchmal so angepasst rüber, dass es schon ein Wort für Nazis gibt, die sich der Hipsterkultur bedienen: Nipster. Ja, das ist verdammt gruselig.
Aber warum funktionieren konservative Trends wie „Oldmoney“ (sich so kleiden, als hätte man schon lange viel Geld in der Familie) oder „Clean Girl“ (sich so schminken, als hätte man gar keine Schminke drauf) eigentlich so gut? Es liegt einerseits an der perfekten Übersetzung in digitale Erzählformate. Auf Plattformen wie Tiktok und Instagram zählt visuelle Kohärenz und Wiedererkennbarkeit. Aus der gleichen Logik heraus haben Barbiepink 2023 und Limonengrün im Brat Summer 2024 so gut funktioniert. Die pastellfarbene Klarheit vieler konservativer Accounts entspricht den Bildstandards, die Social-Media-Plattformen bevorzugt ausspielen. Influencerinnen wie Smith oder Neeleman bedienen diese visuelle Formel bis zur Perfektion – und werden dafür mit Millionenreichweiten belohnt.
Dazu kommt der kulturelle Backlash: Studien zeigen, dass in Zeiten gesellschaftlicher Unsicherheit und wirtschaftlicher Krisen Menschen vermehrt zu traditionellen Werten und klaren Ordnungsmustern tendieren. Die Schere zwischen Arm und Reich wird weltweit immer größer. Die Meldungen über Krisen überschlagen sich. Vielleicht ist es in all der Fragilität gar nicht so verwunderlich, dass viele zumindest äußerlich stabil reich aussehen wollen? In der konservativen Mode wird dieses Bedürfnis visuell erfüllt: Klare Silhouetten, neutrale Farben, häusliche Inszenierungen wirken beruhigend, emotional anschlussfähig und Statement-los – dabei sind sie ja oft hochpolitisch, ideologisch und ökonomisch motiviert.
Aber! Nicht alles ist verloren. Denn wenn Mode eines kann, dann ist es: kontern. Keine andere Branche lebt so stark vom Widerspruch. Und genau darin liegt die Hoffnung: Kommt die konservative Welle auf dem Laufsteg an, gibt es glitzernde, grelle, gemeinschaftliche Gegenwehr auf den Bürgersteigen. Letztes Jahr war da zum Beispiel der „Brat Summer“, ausgerufen von Charli xcx mit dem gleichnamigen Album. Ein queerer, schriller Sommer, limonengrün, Party-feministisch, der für alle frechen Gören stand. So laut, dass sogar die damalige Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris mitmachte. Brat war kein Look, sondern ein Mittelfinger gegen Normschönheit, gegen Langeweile, gegen Männer in schlecht sitzenden Anzügen und zu langen Krawatten (Mr. Trump, was ist da eigentlich los?).
Auch das T-Shirt mit dem Slogan „Protect the dolls“, bekannt gemacht von Schauspieler Pedro Pascal und getragen unter anderem von Tilda Swinton, passt als solidarischer Aufschrei für die Rechte von trans Personen in die Zeit.
Es ist eben auch ein Zeichen unserer Zeit, dass Künstler:innen wie Ikkimel im knappen Leopardenprint-Tanga auf der Bühne stehen, über Fotzen, Sex und Krawall rappen können und Männer mit Hundemasken auf der Bühne in Käfige sperren. Vielleicht muss man hier nicht den Fortschritt des Feminismus suchen, aber man kann zumindest anerkennen, dass es dieses „fotzige“ Selbstbewusstsein auf der Bühne von so vielen Künstler:innen gleichzeitig (Billie Eillish, Charlie xcx, 6euro9zig, Nura, Lola Young, Sampa the Great, um nur einige zu nennen) in der Fülle so vor ein paar Jahren noch nicht gegeben hat.
Und solche Bewegungen wirken. Sie irritieren, sie inspirieren, sie erinnern daran, dass Mode immer auch Protest ist. Und Protest bleibt die effektivste Methode, um in der Modewelt nicht nur gesehen zu werden, sondern gehört.
Und sowieso: Draußen vibe-shifted gerade auch das Wetter und es wird endlich richtig Sommer. Dann können wir es mit dem Brat Summer 2.0 ja noch einmal versuchen. Immerhin wären wir dann verdammt gut angezogen.
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