Aufstieg und Fall der al-Qaida: Der Sturz des Phönix
Mit den Anschlägen von 9/11 hatte Osama bin Laden bereits alles verspielt und seinen Untergang besiegelt. Aufstieg und Fall einer Provinzorganisation.
2000, ein Jahr vor den Al-Qaida-Anschlägen in den USA, stellte der Maler Daniel Richter ein Gemälde fertig. Es zeigt die Umrisse von Menschen in einer unklaren, trümmerhaften Situation, die sich und andere Personen über eine Mauer heben. Der Hintergrund ist rötlich eingefärbt. Es heißt "Phienox" und wird in der Regel als ein Werk zu Mauerfall und deutscher Einheit interpretiert. Tatsächlich geht Richters Gemälde motivisch auf eine Aufnahme zu dem verheerenden Al-Qaida-Anschlag auf die US-amerikanische Botschaften in Nairobi 1998 zurück. "Phienox", ein kleines Wortspiel, der Phönix, der aus seiner eigenen Asche wiederaufersteht.
Am 7. August 1998 hatten Al-Qaida-Zellen zeitgleich die Botschaften der Vereinigten Staaten in Daressalam (Tansania) und Nairobi (Kenia) angegriffen. Sie machten in Afrika unmissverständlich deutlich, worum es ihnen weltweit ging. Sie zündeten an beiden Botschaftskomplexen mehrere Autobomben, um eine größtmögliche Zahl von Opfern in den Tod zu reißen. Hunderte Menschen starben, in der Mehrzahl (schwarz-)afrikanische Zivilisten, Hunderte wurden schwer verletzt, drei Jahre vor 9/11. Zu diesem Zeitpunkt war das ideologische Oberhaupt von al-Qaida der westlichen Öffentlichkeit noch nicht sehr bekannt.
Die US-Polizeibehörden zählten ihn allerdings bereits zu den zehn gefährlichsten Terroristen der Welt. Für die US-Top-Ten der "Most Wanted" hatte bin Laden sich 1993 mit der Urheberschaft für das erste Attentat auf das World-Trade-Center in New York (Autobombe, sechs Tote) erfolgreich beworben. Nach dem Sieg über die Sowjets in Afghanistan waren die USA zum Hauptfeind bin Ladens geworden. US-Truppen waren auf dem geheiligten Boden seines Heimatlands Saudi-Arabien stationiert und stoppten von dort aus 1991 die Expansionsgelüste des irakischen Regimes. Eine US-geführte Koalitionsarmee vertrieb 1991 Saddam Husseins Invasorenheer aus Kuwait. 1992 standen die USA zudem an der Spitze einer - allerdings erfolglosen - Intervention in Somalia. Für bin Laden nicht hinnehmbare Einmischungen.
Osama bin Ladens Extremisierung entsprach dabei in vielem der seiner Umgebung. Mit dem Sieg der schiitischen Islamisten im Iran 1979 über die dortige Monarchie und der damit auch einhergehenden Vernichtung der Linken im Iran brach ein offener Konkurrenzkampf unter der islamistischen Rechten aus. Verschiedene sunnitische und schiitische Gruppen wetteiferten fortan im Kampf gegen das von der Sowjetunion gestützte Najibullah-Regime in Afghanistan um die symbolische Leaderschaft. Anschläge begannen sich zunehmend aber auch gegen die arabischen Regime selbst zu richten. In Algerien brach schließlich 1992 der Bürgerkrieg aus. Dem "schmutzigen Krieg" zwischen Regime und Dschihadisten sind dort etwa 120.000 Menschen zum Opfer gefallen.
Die Logik der al-Qaida
Salafistische Kampfgruppen suchten den Krieg auch nach Europa zu tragen und legten 1995 in der Pariser Metro Bomben. In den sehr vereinfachten Vorstellungen eines Islamisten zeigt sich an der westlichen Lebensart, dem dolce vita - das viele ihrer verhassten Herrscher hinter hohen Mauern selbst praktizieren, von denen der "gemeine Mann" qua materieller Armut sowie mangels kultureller Freiheit tatsächlich oft ausgeschlossen ist - eine prinzipielle Verderbtheit. Es ist ein kulturelles Bild, überall auf der ganzen Welt anzutreffen, das macht es für die Propaganda so verlockend und universell einsetzbar.
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Dieser Dorftrottel-Antiimperialismus, kurzgeschlossen mit religiösen Übermenschenfantasien und im Falle bin Ladens staatlicher Macht (Talibanregime/Afghanistan) wurde zum unberechenbaren globalen Problem. Keine größere Guerilla-Organisation kann ohne die Logistik einer staatlichen Macht, ein sicheres Territorium als Rückzugsfläche, existieren und eine ausreichende Schar von Gefolgsleuten zuverlässig an sich binden. Nachdem al-Qaida 2001 mit den Anschlägen der gesamten US-Nation auf deren Heimatterritorium den Krieg erklärt hatte, war der Gegenangriff auf die Terrorstrukturen in Afghanistan die logische Konsequenz.
Bin Laden hatte neben seinem Millionenerbe aus Saudi-Arabien, das ihn beweglich hielt, zu jeder Zeit eine staatliche Macht im Rücken, ohne die der Aufstieg seines Netzwerks undenkbar gewesen wäre. In der Zeit des Kalten Kriegs waren es die Saudis und die Nato-Staaten selber, die seinen antikommunistischen Glaubenskrieg in Afghanistan finanzierten. Später, in den 1990ern, diente ihm der Sudan als Basis, ab 1996 wieder Afghanistan mit dem Talibanregime.
Unterschlupf im Sudan
Im Sudan fand er zur gleichen Zeit Unterschlupf wie Carlos, "der Schakal". Carlos wurde dort erst 1994 von einem französischen Kommando gefasst. Der Venezolaner war die Schlüsselfigur im Geflecht westeuropäischer Antiimperialisten und palästinensischer Extremisten der 70er Jahre, die Figur, in der sich paradigmatisch Klassen- mit Rassenhass mischte und der bereit war, auf der ganzen Welt gegen das, was er als Imperialismus verstand, Krieg zu führen. Es wundert nicht, dass Carlos aus dem französischen Knast immer wieder lobende Worte für bin Laden, den Führer des neuen internationalen Terrorismus, fand.
Doch der und seine Organisation hatten mit den Anschlägen vom 9/11 in den USA bereits ihren Zenit überschritten. Bin Laden und al-Qaida hatten die Symbolkraft der Zerstörung der Twin Towers in New York völlig überschätzt. Man kann sagen, sie wurden Opfer ihrer eigenen Verschwörungstheorie, wonach der Einsturz der höchsten Türme auch den Zusammenbruch des Ganzen bedeutete. So imperial auf wenige Symbole verdichtet funktionieren die Demokratien des Westens nicht. Weder die Massaker-Attentate auf die U-Bahn in Madrid noch die auf den öffentlichen Verkehr in London konnten im Weiteren die erhoffte Polarisierung für die finale Schlacht "Westen versus al-Qaida" herbeiführen.
Die westlichen Gesellschaften ließen sich weitgehend nicht hysterisieren, nicht in ihrem Umgang mit dem Islam als solchem, nicht im Umgang mit ihren muslimischen Einwanderergruppen, obwohl es immer wieder zu verheerenden Anschlägen aus diesen Milieus kam und auch nach dem Tod von bin Laden wohl weiter kommen wird. Das Entscheidende aber ist, dass Systeme und Bevölkerungen des Westens - auch die überwiegende Mehrheit der Muslime - den als Antiimperialismus getarnten Volks- und Rassenkampf bin Ladens nicht annahmen und ihrerseits individuell und nicht kollektiv bestrafen oder Vergeltung üben.
Es leuchtet nicht mehr
Den Rest dessen, was nach dem Tod bin Ladens von al-Qaida noch übrig ist, dürften nun die nahöstliche Demokratiebewegungen sowie der vom Westen weiterhin aufrechterhaltene militärisch-polizeiliche Fahndungsdruck erledigen. Nach 9/11 war bin Laden vor allem ein Gehetzter ohne Rückzugsgebiet. Die Symbolfigur des globalen islamistischen Terrors wurde so unbrauchbar für das operative Geschäft von al-Qaida, der Geldgeber war nun selbst ein Ressourcen verschlingendes Risiko im pakistanischen Versteck. Der Räuberhauptmann aus den afghanischen Bergen hatte mit der falsch eingeschätzten Symbolkraft der selbstmörderischen Anschläge von 2001 das Todesurteil über sich und seine Organisation selbst gesprochen.
Die Strahlkraft des politischen Islamismus ist 2011 - zumindest, was die Massen anbetrifft - dahin. Der Iran unterdrückt seine eigenen Glaubensbrüder, der Dschihad in Algerien war eine Katastrophe, die globale Polarisierungstaktik bin Ladens hat zur Zerstörung des Taliban-Regimes und zur Distanzierung durch die Muslime des Westens geführt. Die Demokratiebewegungen in den arabischen Staaten eröffnen heute viel attraktivere Beteiligungsmöglichkeiten, als mit Bart und Maschinengewehr durch die Berge zu wetzen, um gegen einen abstrakten Feind zu kämpfen, dessen Lebensart sie viel lieber teilen würden, wenn sie nur nicht weiterhin von dieser ausgeschlossen blieben. Wer das nicht begreift, wie die Bin-Laden-Getreuen von der Hamas im Gazastreifen, wird nur mit Waffengewalt weiter Volkstribun spielen und seine rassistischen Verschwörungstheorien spinnen können.
Zum Schriftzug "Noch brillanter als sein Bildschirm: das Leuchten in den Augen der anderen" montierte Daniel Richter 1998 in eine Computerwerbung das Konterfei bin Ladens. Die Collage bringt es auf den Punkt: Bin Laden verkörperte wie kein anderer den Zusammenprall von Scholle und Globalisierung, der Sehnsucht nach klaren Verhältnissen in einer komplexen Welt. Mit der Zerstörung des Symbols wird nicht der islamistische Terror insgesamt vorbei sein.
Doch die scheinbar so sanften Augen des Patriarchen leuchten nicht mehr. Sein Tod in Abbottabad markiert das Ende einer Epoche, in der die Islamisten wie der Phönix aus der kommunistischen Asche aufstiegen, um "den" Kapitalismus weltweit über eine primitive Klassen- in eine noch primitivere Rassenkampfauseinandersetzung zu ziehen. Wenigstens mit der ideologischen Breitenwirkung ist es vorbei.
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