„Auerhaus“ von Bov Bjerg: Bewährungshelfer fürs eigene Leben
Warum sich nicht umbringen? In seinem Roman erzählt Bov Bjerg vom Aufwachsen im Schwäbischen und trifft dabei ein Gegenwartsgefühl.
Worüber Höppner Hühnerknecht nicht redet, darüber kann er schweigen wie kein Zweiter. Etwa, warum er eine Halbwaisenrente bezieht und sich selbst nicht umbringen werde. Ob das glücklich genug sei. Und dass der Tote, den er auf dem Weg zur Abiklausur auf der Landstraße sieht, nicht der erste sei, den er gesehen habe.
Der Roman „Auerhaus“ erzählt eine Coming-of-Age-Geschichte von sechs Jugendlichen am Rand der Schwäbischen Alb. Die tieferen Schichten der erzählten Zeit ragen wie Endmoränen in den Blick des Lesers. Höppner findet für die Erinnerung an die Zeit der sechs Jugendlichen im Auerhaus einen vielstimmigen Ton, erzählt die Tragödie so leicht beschwingt, dass man sie auch als Komödie verstehen könnte.
Kein Wunder, dass der Roman an Peter Bogdanovichs Film „The Last Picture Show“ erinnert. Bov Bjergs Roman müsste von den Coen-Brüdern realisiert werden. Wie „No Country for Old Men“. Oder von Andreas Dresen (wegen „Halt auf freier Strecke“). Oder von Hans-Christian Schmid (wegen „Requiem“), also von Leuten, die ein ähnlich gutes Gehör für Zeiten und ihr Echo haben wie Bov Bjerg.
Bjerg präpariert seine Geschichte vom Ende der achtziger Jahre, auch deshalb wirkt das so filmisch, wie eine Projektion, in die sich fast unmerklich das Gegenwartsgefühl heutiger Jugendlicher einmischt: Das kann doch nicht wahr sein, wäre ihr erstes Echo. Wie lebten die da, ihr zweites. Und das dritte ist ihr eigenes Aufwachsen in der Gruppenwabe, vernetzt, kaum ein Schritt, den sie allein tun, auch wenn sie das selbst so kaum wahrnehmen. Sie sind elektronisch miteinander verbunden, wie die Bewohner des Auerhauses – der Jugendlichen-WG, die dem Roman ihren Titel gab – es leibhaftig sind.
Keine Normbiografie
Sie lebten dort als Bewährungshelfer für das Leben, dem einer von ihnen, der so dramatisch begabte Frieder, beinahe durch eigene Hand abhanden gekommen wäre. Bov Bjerg erzählt deshalb seinen Roman auch für die eigenen Kinder, die mit so einem Vater wissen, dass ihr Leben nicht in einer Normbiografie von „Birth, School, Work, Death“ ablaufen wird.
„Manche Leute brachten sich um. Blöde Sache. Aber warum? Das wusste kein Mensch. Man konnte sie ja nicht mehr fragen. Jedenfalls die, bei denen es geklappt hatte. Die, bei denen es nicht geklappt hatte, die konnte man noch fragen. Aber zählte das, was die sagten? Vielleicht gab es für einen Selbstmordversuch, der schiefging, ganz andere Gründe als für einen Selbstmordversuch, der gelang.“
Bov Bjerg
Für die Geschichte, die Höppner Hühnerknecht so lakonisch erzählt, erfindet Bov Bjerg etwas Atemberaubendes. Er erzählt vom Erwachsenwerden im A-cappella-Ton. Seine Helden begleiten – tutti und soli – sich ins Leben und Sterben. Darüber kann man lachen und weinen. Episoden unter Flutlicht in Cinemascope (die Silvesterparty, bei der „die komplette Oberstufe, die halbe Psychiatrie und alle Schwulen zwischen München und Paris“ zusammen feiern) und versteckt angedeuteter Schrecken: der fensterlose Raum im Auerhaus, der Raum, in dem das begabte Kind Frieder das Grauen befiel. Dunkeldeutschland am Rande zum Nichts. Bov Bjergs Erzähler Höppner erzählt im Parlandoton, wie Frieders Vater ihm nach der Beerdigung das Tagebuch seines Sohnes gibt, eine Szene, die einen bestürzend feinen Ton für rasende Trauer findet.
Filmgefühl beim Lesen
Der Roman verzichtet deshalb auf den pastosen Kitsch des Präsens. Nur im Ton der Vergangenheit lässt sich das Überleben des Erzählers beglaubigen. Einen wunderbaren Eindruck für das Filmgefühl beim Lesen gibt Höppners Vorliebe für das Wort glotzen.
Man muss sich das natürlich auf Schwäbisch vorstellen: Was glotscht!? Im Glotschen hören und lesen wir das Monströse des Sehens und Gesehenwerdens, auch dessen, was erst am Ende in den Blick gelangt.
Bov Bjerg: „Auerhaus“. Blumenbar, Berlin 2015, 240 Seiten, 18 Euro
Die literarischen Referenzen sind deshalb nicht nur Herrndorfs „Tschick“ oder Salingers „Fänger im Roggen“. Auch so ein Erzähler wie Wolfgang Borchert (“Draußen vor der Tür“) kommt in Erinnerung, als gebranntes Kind, das das Grauen hinter sich weiß. Das Freitod-Leidthema evoziert Werther-Gegenwart, Ulrich Plenzdorf ist also eine weitere Referenz.
In der Gestalt der achsengleichen Schönheit Pauline, Frieders angebeteter Liebe, kommt ein Feuerteufel in den Blick, der dem Schrecken ob des behausten Lebens ein spätes Echo derjenigen Schwabenkinder entgegensetzt, die das Genielüftle ihrer Heimat in den Terrorismus getrieben hat. Pauline nimmt als Unbehauste das Schicksal der Behausten in ihre Streichholzfinger.
Eine letzte Erinnerung ans dichte Lesen, das Bov Bjerg ermöglicht: „Er setzte sich. Das sah so ungelenk aus. Als wären ,er‘ und ,sich‘ zwei verschiedene Personen.“ So findet schließlich auch Rimbaud in die deutsche Gegenwartsliteratur. Denn auch er, Frieder, ist ein Anderer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!