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Attentat auf Bundesinnenminister SchäubleWahlkampf mit tödlichem Risiko

■ Den Sicherheitslogistikern dürfte die „Wahnsinnstat von Oppenau“ den Schweiß auf die Stirn treiben. Dabei hat der Bundestagswahlkampf gerade erst begonnen. Während die Polizei nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Innenstaatssekretär Neusel jederzeit mit einem RAF-Anschlag auf Kohls Kronprinzen, den hochgefährdeten Innenminister Schäuble rechnete, war der Anschlag nach dem Messerstich auf SPD-Kanzlerkandidat Lafontaine im April wiederum die Tat eines einzelnen. Schäubles Zustand ist nach Aussagender Ärzte nach wie vor prekär.

Mit dem Mordanschlag auf Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (48) und dem knapp sechs Monate zurückliegenden Attentat auf SPD- Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine sieht sich die bundesdeutsche Gesellschaft erstmals mit einem Phänomen konfrontiert, das in den USA schon fast zum Alltag gehört. Nicht von politisch motivierten Gruppen geht für (Spitzen-)Politiker die größte Gefahr für Leib und Leben aus, sondern von offenbar psychisch oder geistig verwirrten Einzeltätern, deren Aktionen völlig unberechenbar und damit kaum zu verhindern sind.

Wie die 42jährige Adelheid Streidel bei einer Wahlveranstaltung der SPD in Köln, so hat sich auch hier der 37 Jahre alte Täter Dieter Kaufmann unter die Zuhörer einer Parteiveranstaltung begeben und deren Abschluß abgewartet, bis er seinen Plan in die Tat umsetzte. Beide sind bis auf allernächste Nähe an ihr Opfer herangekommen und waren nicht mehr aufzuhalten.

Kaufmann gab drei Schüsse aus einem Revolver der Marke Smith & Wesson, die er aus dem Jagdschrank seines Vaters entwendet hatte, auf den Innenminister ab: zwei Kugeln trafen Schäuble in der unteren rechten Gesichtshälfte und in Höhe der Brustwirbel, ein Schuß streifte einen Bodyguard des Politikers, den 28jährigen Bundesgrenzschutzbeamten Klaus-Dieter Michalsky, der sich schützend über Schäuble geworfen hatte.

Nach Gesprächen in Berlin war Schäuble am Freitag nachmittag nach Straßburg geflogen, um von dort aus in seinen badischen Wahlkreis in der 5.000-Seelen-Gemeinde Oppenau zu einer CDU-Versammlung zu fahren. Fast zur gleichen Zeit bestieg der Täter, der noch bei seinen Eltern in Appenweiler wohnt, einen Bus nach Oppenau, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, das er, wie er später aussagen wird, bereits seit einem halben Jahr geplant hatte.

Kurz vor 22.00 Uhr beendet Schäuble seine Rede und begibt sich zum Ausgang, wo ihn Kaufmann bereits erwartet. Nach den Schüssen bricht der Innenminister, der am Ausgang von seiner 19jährigen Tochter erwartet wird, sofort zusammen, ist aber noch bei Bewußtsein. Ein Notarzt leistet erste Hilfe, bis ein Rettungswagen den Schwerverletzten in das nächstliegende Kreiskrankenhaus bringt. Von dort aus wird er kurze Zeit später in die Freiburger Universitätsklinik geflogen. Noch in der Nacht wird Schäuble fünf Stunden lang am Kopf und an der Brustwirbelsäule operiert. Weitere Operationen werden folgen müssen. Gestern nachmittag galt sein Zustand nach Auskunft der behandelnden Ärzte als weiterhin sehr ernst.

Dieter Kaufmann wird noch im Versammlungsraum festgenommen. Bei den bis in die Morgenstunden des Samstag andauernden Verhören zeigt er nach Angaben des Leitenden Oberstaatsanwaltes in Offenburg keine Reue. Im Gegenteil, Kaufmann habe einen ausgesprochen befriedigten Eindruck gemacht. Zum Motiv der Tat gibt er an, er habe sich vom Staat psychisch verfolgt gefühlt. Dafür sei der Innenminister verantwortlich. Außerdem sei es ihm gleichgültig, ob er innerhalb oder außerhalb des Gefängnisses terrorisiert werde.

Mittlerweile befindet sich Dieter Kaufmann in Untersuchungshaft. Ungeklärt ist noch, ob er eventuell in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen wird. 1983 war der extrem in sich gekehrte Täter, der zuletzt als Vermessungsarbeiter tätig gewesen sein soll, wegen eines Drogendelikts zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt, 1986 aber bedingt freigelassen worden. Wie Adelheid Streidel soll auch Kaufmann wegen einer als Schizophrenie diagnostizierten Geisteskrankheit in Behandlung gewesen sein.

Tiefes Erschrecken in Bonn

Die Akteure auf der politischen Bühne in Bonn und in den Ländern zeigen sich durch das Attentat zutiefst erschrocken. Von Oggersheim aus ließ sich Bundeskanzler Kohl ständig über den Gesundheitszustand seines Innenministers, „mit dem ich seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden bin“, informieren. Nach einem Blitzbesuch am Krankenbett in Freiburg bezeichnete er die Tat als „furchtbare Heimsuchung“. Dies sei die Stunde, in der man das Beten lerne. SPD-Chef Hans-Jochen Vogel erinnerte an Lafontaine, äußerte aber auch Betroffenheit. CDU-Generalsekretär nannte das Attentat „feige“, und Bundesjustizminister Hans Engelhard (FDP) „furchtbar und sinnlos“.

Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Wolfgang Bötsch, rief alle zur Wachsamkeit gegenüber Rechtsverstößen und Gewalt auf. An ihrer Bekämpfung dürften „nicht die leisesten Zweifel“ aufkommen. SPD-Vize Herta Däubler-Gmelin forderte, den Zugang zu Waffen neu zu regeln und zu verschärfen. Dagegen warnte Bischof Forck von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg davor, das Attentat zum Anlaß für verstärkten Personenschutz zu nehmen. Bei solchen Anschlägen helfe „auch die beste Absicherung nicht“. Gerade auf psychisch Kranke könne sich niemand einstellen.

Die Grünen würdigten Wolfgang Schäuble als „klugen und fairen Verhandlungspartner“ und wünschten ihm baldige Genesung.

Nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung muß Bundesjustizminister Engelhard Wolfgang Schäuble vertreten. Die laufenden Amtsgeschäfte des Innenministers werden während seiner Abwesenheit von dem dienstältesten beamteten Staatssekretär Neusel geführt. bg

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