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Aus taz FUTURZWEI

Arno Frank über Abgedriftete Leben wir in einer Illusion?

Marion kann Pandemieberichte nicht mehr hören, Jörg schenkt sich Cointreau ein, Renates Tochter ruft nicht mehr an, Lutz publiziert jetzt auf Facebook. Vier mentale Protokolle.

Foto: AHAOK

Von ARNO FRANK

Die Schamanin

Marion mag es, wenn Duplo unter ihr arbeitet. Sie mag seinen stoischen Rhythmus und seinen talgigen Geruch, den Gleichmut des Pferdchens. Beim Reiten kann sie für eine Weile alles vergessen, dann ist sie im »Flow«. Wenn dann noch die Sonne hinter dem Hauptkamm der Alb aufgeht und das Licht durch die Fichten dringt, dann ist Marion ganz bei sich. Mega. Dann kann ihr Chi frei schwingen. Normalerweise gelingt es ihr nur selten, mit ihrem inneren Kind zu spielen. Die Welt, sie ist nicht so.

Die Welt ist vielmehr in Unordnung, denkt sie, als sie später in ihrem Hyundai vor der Bahnschranke sitzt. Alles wird schneller, alles wirbelt umeinander, und das wahre Wissen geht verloren. Mit den Fingern trommelt sie aufs Lenkrad und spürt, wie sich ihr Sonnengeflecht wieder verkrampft. Zwischen Werbung für Tierfutter und dem neuen Hit von Ava Max plappert das Radio wieder von der Pandemie. Marion schaltet es ab, sie kann’s nicht mehr hören. Wann werden die Menschen lernen?

In der Praxis zündet sie Räucherstäbchen an und legt Ambient auf, auch wenn heute wieder niemand kommt. Deshalb bietet Marion ihre energetische Beratung auch per Fernsitzung an. Eine schwäbische Hausfrau, die auf der Suche nach ihrem Geburtsdrachen war, ihrem persönlichen Seelenbegleiter, hat nach drei Sitzungen per Telefon angerufen und gesagt, ihr Mann hätte ihr diesen »Hokuspokus« verboten. Das macht Marion so wütend. Aber impfen, klar, impfen lassen sie sich alle! Manchmal erscheint ihr die gegenwärtige Lage wie ein Komplott der Schulmedizin, um die alten Weisheiten zu verdrängen. Draußen fährt ein Schneeräumer vorbei, obwohl im Dorf gar kein Schnee liegt.

Später ruft Bharoosa an und sagt, dass sie Angst vor diesem Chip hat. Bharoosa ist der schamanische Name ihrer Freundin, eigentlich heißt sie Susanne. Sie ist viel in Foren unterwegs und hat Zugang zu Wissen, das den gewöhnlichen Menschen verschlossen ist. Auch hat sie sich vor dem Schamanismus viel mit germanischer Medizin beschäftigt, ihre Yoga-Kurse laufen weiter gut. Fortbildung, das ist das Zauberwort! Bharoosa schimpft auf die Pharmaindustrie und Bill Gates, Marion hört nur mit einem Ohr zu. Ob sie denn in zwei Wochen mitkommt auf die Demo in Berlin? »Hm«, sagt Marion und tastet nach ihrem Kalender. Sie mag Susanne.

Bharoosa bedeutet auf Urdu »Vertrauen«. Marion vertraut.

Foto: AHAOK

Der Anwalt

Jörg rollt in die Tiefgarage und denkt an Fuerteventura, ausgerechnet. In Puerto de Rosario hat er ein Apartment, dort gibt es auch eine Tiefgarage. Tiefgaragen sehen überall gleich aus. Und er wäre jetzt verdammt gerne mit Sabine auf den Kanaren. Aber geht ja nicht. Sabine weiß das auch und meldet sich kaum mehr. Und das, obwohl die Scheidung längst durch ist und es nun eigentlich hübsch losgehen sollte. Zweiter Frühling, Baby! Er stellt den Audi ab und merkt am Echo der zugeschlagenen Tür, wie geladen er wieder ist. Jörg hat Lust, fest zuzuschlagen.

Fatima hat er frei gegeben, freigeben müssen wegen »Homeoffice« und dem ganzen Theater, also ist er allein in der Kanzlei. Am Schreibtisch sieht er die Post durch, während er den Rechner hochfährt. Landgericht, Amtsgericht, Finanzamt, Engel & Völkers und das Bezirksamt. Was drin steht, weiß er schon. Er schiebt das Bündel zur Seite und blättert den Ordner mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts auf: »Die Pflicht des Staates, die Menschenrechte zu verwirklichen, resultiert aus der objektiv-rechtlichen Pflicht und ergibt ein (allgemeines) Gebot zu Schutz und Förderung der Grundrechte.« Steht da.

Jörg schiebt die Brille in die Stirn und reibt sich die Nasenwurzel. Wäre doch gelacht, denkt er. Der Staat soll seine Maßnahmen schonend und ausgeglichen treffen. Legitimer Zweck. Angemessenheit. Erforderlichkeit. Lässt sich alles einzeln bestreiten. Das Bestreiten ist, genau genommen, sogar sein Job.

Nichts gegen Verkehrsdelikte, Arbeitsrecht und Immobilien, Immobilien vor allem, das bringt hübsch Geld ein. Aber hat er dafür Jura studiert? Wollte er nicht mehr? Die Welt verändern? Jetzt kann er endlich an den ganz großen Rädern drehen!

Das Recht ist Dschungel, eine Vegetation aus Paragrafen, die der Staat über das Land und seine Bürger gelegt hat. Jörg bewegt sich ganz flink zwischen den Grundsätzen und Urteilen, kennt die Schlupflöcher und Schleichwege. Manchmal verwirrt ihn das alles. Manchmal stellt er, wie früher im Studium, die Legitimität dieses Dschungels infrage. Dann packt er gern sein Blasrohr mit den Giftpfeilen aus. Ein Antrag auf einstweilige Verfügung wäre jetzt nicht schlecht. Vielleicht, was die eingestellten Flüge innerhalb Europas betrifft? Jörg steht nachdenklich auf und schenkt sich einen ersten Cointreau ein. Während er ihn im Glas schwenkt, denkt er an Fatima.

Der würde es auf Fuerteventura auch gefallen.

Die Skeptikerin

Renate tut der Hintern weh. Sie müsste sich mal einen neuen Bürostuhl kaufen. Natürlich haben die Läden geschlossen, typisch. Renate tut der Hintern weh, weil sie so viel surft. Früher hockte sie wochenlang auf dem Sofa vor der Glotze. Das ist vorbei. Seit ihre Tochter ihr den Rechner angeschlossen und die Sache erklärt hat, ist das Netz ihre neue Leidenschaft geworden. Fotos der Enkel, per Videokonferenz mit der Nichte sprechen, ein wenig bei Facebook und Twitter herumstöbern. Ist immer was los da!

Hinter ihr läuft die Glotze noch immer, nur ohne Ton. Renate hat gelernt, dass sie ARD und ZDF nicht trauen kann. Hat kapiert, dass das Systemmedien sind. Gewundert hat sie sich schon damals, als die ganzen Asylanten kamen und auch plötzlich in der Fußgängerzone auftauchten. Dass da keiner was sagt, nicht einmal die Bild-Zeitung. Die kauft sie auch nicht mehr. Neuerdings macht sie sich vor dem Surfen einen Prosecco auf. Ist alles kaum zum Aushalten, was man da erfährt.

Neulich zum Beispiel dieses Video auf YouTube zur Quantenüberlegenheit. Sie weiß nicht einmal, was Quanten überhaupt sind. Aber der Mann im Video hat gesagt, dass wir nun nicht einmal mehr sicher sein können, dass wir nicht in einer Illusion leben. Das hat der Renate schon zu denken gegeben. Sie hat es ihrer Tochter erzählt, aber die hat nur gelacht. Da hat Renate ihr erstmal das Video geschickt. Selbst gelacht hat sie darüber, dass die Erde in Wahrheit eine Scheibe sein soll. Was aber, wenn die beiden Pole wirklich eine Eiswand sind, wenn die Amerikaner alles vor uns geheim halten?

Darüber hat Renate lange nachgedacht. Sie war schon damals bei der Mondlandung skeptisch, ob das alles stimmen kann. Inzwischen ist alles nur noch viel verwirrender geworden, sie kommt kaum mehr mit. Es erklärt einem aber auch keiner! Bis eben auf die tollen Leute im Netz, die nehmen sich Zeit. Also nimmt Renate sich die auch und hört zu, setzt hier und da ein Häkchen. Einmal hat sie sogar kommentiert, da ging es um die Freimaurer, und das haben Leute gut gefunden.

Da hat sich Renate gefreut und gar nicht mehr gefragt, wann ihre Tochter zuletzt angerufen hat.

Der Journalist

Lutz drückt auf »Senden« und lehnt sich zufrieden zurück. So, jetzt hat er’s ihnen mal wieder gegeben. Ein langer Text mit Worten wie »Philippika« und »dräuen« und »Abendland«, eine Anspielung auf Oswald Spengler, aber auch ein Lach-Smiley für die Minderbemittelten. Schreiben kann er, konnte er schon immer. Das hat ihm auch der Schirrmacher gesagt, damals, als er Feuilletonchef geworden ist in Hamburg: »Aber schreiben können Sie!«, hatte er gesagt und ihn dabei so komisch angeguckt. Ist dann ja auch eine sehenswerte Laufbahn geblieben. Chefredakteur, Verlagswechsel, Herausgeber. Als einer der ersten Journalisten hatte er einen Videoblog. Da waren die ganzen Arschgeigen, die damit heute herumspielen, noch gar nicht geboren.

Das Telefon klingelt, Lutz lässt es klingeln. Das ist wieder diese widerliche Heißdüse aus Berlin, der Typ, der beim RBB rausgeflogen ist und nun Klickzahlen in Millionenhöhe hat auf YouTube. Liegt ihm in den Ohren, dass er bei ihm einsteigt. Aber Lutz hat kein Interesse. Er hatte Auflagen in Millionenhöhe! Er hatte diesen Jaguar und das Haus auf Sylt, später das Boot auf dem Wannsee. Er hatte Einfluss. Macht, von der sie heute in den Medien nur träumen können. Herrschaftszeiten waren das. Naja, ihm kann’s egal sein. Die Schäfchen weiden längst im Trockenen.

Trotzdem wurmt es ihn, dass seine Analysen nicht mehr gefragt sind. Früher, da war sein Meinungssegel prall gefüllt, da ging es in die richtige Richtung. Heute, da hat der Wind sich gedreht. Und als das passierte, war er schnell von Bord. Konnte man mal sehen, wer wirklich ein Freund war und wer nur »Freund«. Kollegen hat er ohnehin keine. Nur Kreaturen, deren Karrieren er einst beförderte. Fallengelassen haben sie ihn wie eine heiße Kartoffel.

Kartoffel? Ist das nicht neuerdings Migrantensprech für Deutsche? Da muss er mal einen Text auf Facebook drüber schreiben. Nur so, zum Vergnügen. Und wider den Stachel zu löcken.

Lutz fährt sich durch das schüttere Haar, beugt sich nach vorn und öffnet den Browser.

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°16 erschienen