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Aus taz FUTURZWEI

Armin Nassehi zur Lösung der Klimakrise Ordnung und Fortschritt

Wir haben keine Zeit mehr. Was tun? Armin Nassehi, Soziologe, über neues Denken zur Lösung der Klimakrise.

Bild: Robert Fischer

Interview: Peter Unfried und Harald Welzer

taz FUTURZWEI: Herr Nassehi, ein Schlüsselsatz von Ihnen lautet: Es gibt kein gesellschaftliches Handeln aus einem Guss. Das ist unsere große zivilisatorische Leistung. Was meint das?

ARMIN NASSEHI: Die Leute glauben, dass es ein für alle Mal und für alles und sofort Lösungen geben muss. Aber so etwas gibt es eigentlich nirgendwo. Ich meine, dass man in fast allen Situationen in der Moderne sehen kann, dass die Macht oder die Einflussmöglichkeiten geteilt werden. Der Absolutismus heißt ja deswegen so, weil der Herrscher absolute Möglichkeiten des Zugriffs hatte. Das wird durch Gewaltenteilung und funktionale Differenzierung der Gesellschaft unmöglich. Auch in Organisationen ist Führung heute nur eine Teilaufgabe. Niemand kann sich heute allein gegen alles andere durchsetzen. Aber überall gibt es Leute, die die Fantasie haben, dass alles in einem Konzept und aus einem Guss und ganz schnell gemacht werden muss.  

Das können wir uns abschminken?

Ja. Die Kunst besteht wahrscheinlich darin, Leute zusammenzubringen, die unterschiedliche Probleme gleichzeitig lösen. Die einen sagen, man kann sich nur wechselseitig kontrollieren. Ich würde sagen, man kann sich überhaupt nicht kontrollieren, sondern muss etwas ausprobieren, aus dem etwas Neues entsteht. Das ist ein ganz simpler Gedanke. Aber er verändert die Suchrichtung nach Lösungen.

Ihr Befund lautet also, dass wir durch die Diversifizierung auf allen Ebenen eigentlich Systemstabilisierung haben und die auch wünschenswert ist?

Ja. Aber Systemstabilisierung hört sich sehr unsympathisch an. Damit ist nicht ein Konservatismus gemeint, der sich nicht auf Veränderung einlassen will, sondern eher die Einsicht, dass es aus »dem System« kein Entrinnen gibt. Auch das Entrinnen bleibt drin, auch der Widerspruch gehört dazu. Auch die Abweichung ist ein Innenverhältnis.

Wenn es aber nun so ein Phänomen gibt wie eben gefährlicher Klimawandel, dann wird, was eigentlich eine Stärke ist, zu einer Blockierung.

Es kehrt sich gegen sich selbst, ja.

Das ist kein sehr fröhlich machender Befund.

Das ist ja auch nicht das Geschäftsmodell. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Leute fröhlich zu machen.

Tja.

Wir neigen dazu, in Krisensituationen diese Arbeitsteilungsform aufheben zu wollen. Wir haben viel über Krankenhäuser geforscht, in denen in vielen Bereichen Hierarchien flacher werden und mehr Kommunikation vorkommt als noch vor einiger Zeit, was ohne Zweifel zur Zivilisierung der Krankenbehandlung beigetragen hat. Aber es ist interessant, dass in Krisensituationen austarierte Rollen, Zuständigkeiten und Hierarchien wieder zuschlagen und dass dann quasi durchregiert werden kann. Am offenen Thorax gibt es keinen Diskurs, sondern eine ziemlich rigide Befehlsstruktur und Arbeitsteilung unter Vermeidung von zu viel Kommunikation.

Da gibt es keine Demokratie.

Da gibt es keine unmittelbare Demokratie – aber was es gibt, ist eine Einsicht in die differenzierten Rollenkonzepte und sogar in Hierarchien. All das findet in Organisationen statt, und die sind selten demokratisch im engeren Sinne organisiert.

Man möchte ungern Patient unter demokratischen Verhältnissen sein.

Wenn die Situation wieder bereinigt ist, kehrt man wieder zurück zu egalitärerem Verhalten. Übertragen auf den Klimawandel: Könnte man ihn so behandeln wie eine Operation am offenen Thorax und wäre die Gesellschaft eine Organisation, wäre ein Durchregieren vielleicht möglich, weil man Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten hätte. Gesellschaften sind aber keine Organisationen, in denen man jedes und alles in die Pflicht nehmen und unter Kontrolle kriegen kann. Organisationen sind absolutistischer als es ganze Gesellschaften sein können. Das heißt aber nicht, dass man nur routiniert abwarten kann, damit sich die Probleme selbst lösen. Es muss etwas zwischen der Unkontrollierbarkeit der Gesellschaft und dem absolutistischen, auf Erlösung zielenden Durchregieren geben.

Das Rufen nach Erlösung kommt aber erstmal wesentlich attraktiver daher.

Ja, es ist attraktiver. Die Frage ist: Wofür attraktiver? Für die Situation des Argumentierens ist es attraktiver, aber nicht für die operativen Fragen.

Aber für die Person, die so argumentiert, ist es auch attraktiver.

Attraktiv an einer geradezu eschatologischen Perspektive ist, dass man dagegen argumentativ letztlich nicht mehr ankommt. Wer jedes Detail mit dem Überleben der Menschheit assoziiert, ist immer im Recht. Und das gilt kurioserweise auch für das andere Extrem. Wer das Klimaproblem für schlicht inexistent erklärt, wer sich prinzipiell verweigert, ist auch unerreichbar und auf der sicheren Seite. Man muss sich also fragen, mit welchen Mitteln man politisch überhaupt am Problem arbeiten kann. Sicher nicht damit, mit komplizierten systemtheoretischen Mitteln auf Marktplätzen Wahlkampf zu machen. Das ist klar, dann kann man auch gleich zu Hause bleiben. Das ist nicht der Punkt.

Was ist der Punkt?

Man muss vielleicht ohnehin über die Rolle von Staatlichkeit bei diesem Thema nachdenken. Ich stelle mir eine moderierende Rolle vor, Staatlichkeit als der Ort, an dem Kräfte durchaus konflikthaft aufeinandertreffen, die wechselseitig anerkennen müssen, dass sie unterschiedliche Problemlösung-Tools haben. Und dann muss man prüfen, ob sich daraus gemeinsame Lösungen machen lassen, die sowohl ökonomische Akteure ins Boot holen als auch staatliche Durchsetzungsmöglichkeiten garantieren.

Können Sie das konkretisieren?

Wenn ich mal naiverweise eine Parallele aus einem ganz anderen Gebiet nennen darf. Wir haben letztens viel über den deutschen Ethikrat und seine Bearbeitung biomedizinischer Fragen geforscht, der seine besten Ergebnisse nicht durch harmonische Simulation von Gemeinsamkeit erzielt, sondern dadurch, dass sehr unterschiedliche Expertise ganz unterschiedlicher Fächer sich darauf einlassen kann, die eigene Position aus der Perspektive des Gegenübers zu stärken. Das gelingt nur, weil die Leute sehen, dass die unterschiedlichen Fächer, die daran beteiligt sind, die unterschiedlichen Problemlösung-Tools, die unterschiedlichen Praktiken, die dahinterstecken, sich wechselseitig verstehen können und dadurch etwas Drittes entsteht. Und das tut es dann auch. Natürlich geht es auf dem Gebiet der Staatlichkeit dann auch um Macht, um Interessen, um Mehrheitsbildung und so weiter, aber wir werden nicht weiterkommen, wenn es nicht gelingt, in einer Gesellschaft der Gewaltenteilung und Differenzierung die unterschiedlichen Gewalten und Differenzen zu vernetzen – und das ganz ohne Harmonisierungs- und Verschmelzungsfantasien.

Ihnen begegnet aber auch, wenn man über die Klimakrise spricht, dass sich mit geradezu naturgesetzlicher Notwendigkeit Menschen im Publikum melden und sagen: Wir haben aber keine Zeit.

Ja.

Diese »Wir haben aber keine Zeit«-Argumentation ist ja aus der naturwissenschaftlichen Klimaforschung gekommen und vernebelt jetzt die Hirne. Was damit ja gemeint ist, ist eine Beschränkung des Handlungsspielraumes. Aber die eigentliche Beschränkung des Handlungsspielraumes ist dieses Denken und Sprechen, das vielleicht schlimmer ist als die Beschränkung durch den Klimawandel selber?

Ja, natürlich. Das Zeitargument hat eine sachliche und eine diskursstrategische Seite. Wer sagt, wir hätten keine Zeit, will damit das Durchregieren legitimieren. Aber zugleich stimmt es, dass man tatsächlich bisweilen wenig Zeit hat, aber …

Die Klimapolitik-Aktivistin Greta Thunberg hat Recht, wenn sie sagt, ihr müsst auf die Wissenschaft hören, aber sie müsste sagen: Hört nicht nur auf die Klimawissenschaft, sondern auch auf die Sozialebene, damit ihr nicht nur versteht, was getan werden muss, sondern auch wie.

Genau.

Leider haben die Sozialwissenschaften so arg viel noch nicht beizutragen.

Nein, wenn sie in erster Linie als Moralwissenschaft auftritt, ist es keine große Hilfe.

Was meinen Sie damit?

Das Klimawandelthema ist ein schöner Lackmustest, ob eine sozialwissenschaftliche Perspektive in der Lage ist, die differenzierte Struktur der Gesellschaft und ihre eigene, innere Widerständigkeit wahrzunehmen (die ja auch eine zivilisatorische Errungenschaft ist), oder ob sie letztlich nur selbst als politischer Spieler auftritt und am Ende die Möglichkeiten zum Durchregieren überschätzt. Die Gesellschaft ist keine Gemeinschaft von Wohlmeinenden. In der kommen aber leider Gottes auch andere Exemplare vor.

Das ist aber keine unübliche Illusion.

Wenn ich große Sätze sagen würde …

Bitte, ja, ja, ja. Wir brauchen große Sätze.

Es gibt insofern eine Krise der Sozialwissenschaften im Hinblick auf ihre Funktion in der Gesellschaft. Die Konfliktlinie innerhalb der Sozialwissenschaften verläuft dort, wo die analytische Distanzierung misslingt und die Grenze zum engagierten Aktivismus verschwimmt. Analytische Distanzierung gilt dann als strukturkonservativ. Statt einer angeblich affirmativen Beobachterperspektive wird eine kritische Teilnehmerperspektive eingenommen und politische Soziologie mit soziologischer Politik verwechselt. Diese Alternative ist so eingeführt und stabil, dass es am Ende an Urteilskraft fehlt.

Was fehlt?

Ich würde es umkehren: Wir brauchen eine kritische Beobachterperspektive, damit die affirmative Teilnehmerperspektive ein bisschen aufgebrochen wird. Ich würde sagen, dass sich die wissenschaftliche Perspektive zunächst mal distanzieren muss. Das tun wir zu wenig. Und aus der Distanz wird dann deutlicher, wie sehr das, was ich vorhin etwas metaphorisch Gewaltenteilung oder etwas soziologischer Differenzierung genannt habe, die Möglichkeitsbedingung und Begrenztheit allen Tuns ist. Auf so eine existenzielle Herausforderung wie den Klimawandel zu reagieren, kann nicht allein durch Verve oder Apokalyptik ermöglicht werden, gerade weil die moderne Gesellschaft sich Formen der Gesamt- und Kompaktsteuerung entzieht. Wo das versucht wird, gerät man in Situationen, die die erreichten zivilisatorischen Standards unterlaufen – das gilt ebenso für entfesselte politische Macht wie in autoritären Regimen wie Russland und China, aber auch für entfesselte Märkte, denen man gerne alle Steuerungskompetenz zuschreibt.Auch wenn es langweilig klingt: Die kritischste Position ist die distanzierte kritische Beobachterperspektive, weil sie auch noch die Bedingungen der eigenen Beobachtung mitsehen kann oder wenigstens will.

Lassen Sie uns auf das Konzept der Moderationen zurückkommen.

Ich habe mal als Denkfigur den Vorschlag eines Parlaments der Funktionen gemacht. In frühen Demokratien gab es Ständekammern. In Bayern war das der Senat zum Beispiel oder in Großbritannien ist es das Oberhaus. Das sind Vertreter von nicht demokratisch legitimierten Ständen, die die Struktur der Gesellschaft abgebildet haben. Vielleicht muss es neben der Abbildung der gesellschaftlichen Milieus und Interessengruppen wie in den demokratischen Parlamenten wieder Versammlungen geben, die die Struktur der Gesellschaft abbilden, heute natürlich nicht mehr Stände, sondern operative Funktionen, also ökonomischer Sachverstand, politischer Sachverstand, rechtlicher Sachverstand, wissenschaftlicher Sachverstand, medizinischer Sachverstand, Perspektiven alltäglicher Lebensführung und Implementationsbedingungen und so weiter. Die Frage ist: Gibt es historische Beispiele, in denen man etwa Politik und Ökonomie neu aufeinander bezogen hat?

Was fällt Ihnen da ein?

Die erfolgreiche Sozialdemokratie Ende der 60er-Jahre war ja nicht erfolgreich, weil die Leute pluralistischer waren, sondern die sind pluralistischer geworden, weil man eine neue Anordnung des Verhältnisses von Politik, Ökonomie und Bildung hinbekommen hat, weil Notwendigkeiten dafür da waren. Bildungsexpansion, sozialer Aufstieg und kulturelle Pluralisierung gingen Hand in Hand, liberale Emanzipationsperspektiven waren eine fast logische Folge, weil es sich in institutionellen Rahmenbedingungen etablieren konnte. Was man daraus für heute lernen kann: Eine Rekombination und ein Rearrangement von Zugangsmöglichkeiten und Problemlösungskonzepten eröffnet neue Perspektiven. So etwas Ähnliches braucht es auch jetzt, Bündnisse zwischen Akteuren ganz unterschiedlicher fachlicher Herkunft, ganz unterschiedlicher Interessen und mit der Fähigkeit, die geltenden Routinen nicht als das letzte Wort anzusehen. Vielleicht muss man dafür spezielle Orte erfinden.

Der Rat für nachhaltige Entwicklung zum Beispiel ist so zusammengesetzt: die organisierte Zivilgesellschaft.

Ich behaupte ja nicht, dass es das noch nicht gegeben hat. Vielleicht muss man es aber viel stärker machen. Warum können solche Sachen eigentlich keinen Verfassungsrang haben? Wenn man Ökologie in die Verfassung reinschreiben würde als Staatsziel, dann müsste dieses Staatsziel eine institutionelle Ordnung haben, die sich darum kümmert, und zwar nicht einfach in dem Sinne, irgendwelche Zielpapiere zu formulieren, sondern realistische Arrangements zu entwickeln.

Ist ja gerade die Diskussion: Nachhaltigkeit als Staatsziel.

So ist es. Die Frage ist aber: Unter welchen Bedingungen ist das dann mehr als symbolische Politik? Wie bekommt man diejenigen an einen Tisch, meinetwegen in ein Parlament der Funktionen, um Lösungskonzepte zu erarbeiten, ohne Machtstrukturen, Interessen und das Zaudern erfolgreicher Leute zu unterschätzen.

Sie beschreiben auch in Ihrem neuen Buch Muster den Widerspruch zwischen Revolution und Ordnung. Die romantische Feuilletondiskussion sagt: Wir brauchen jetzt aber mal wirklich Revolution, weil alles anders werden muss. Das wäre der Schlager, den wir seit 68 abspielen – in der Annahme, damals sei Revolution gemacht worden.

Das haben wir nicht seit 68, sondern seit 89 – und zwar seit 1789. Das war genau die Diskussion. Ordnung und Fortschritt – das muss man zusammen denken können.

Revolution klingt super und links, Ordnung klingt langweilig und rechts. Aber eine globale Krise braucht eine politische Umstrukturierung.

Revolutionen werden immer eingeholt durch neue, zu starke Ordnungen. Das wissen wir ja aus vielen Zusammenhängen: Wenn man alles verflüssigt, dann wird die Ordnung hinterher noch extremer. Und noch später sind alle froh, wenn nach Angst und Schrecken wieder Frieden da ist.

Also wollen wir Ordnungspolitik und nicht Revolution.

Wir wollen nicht Revolution, nein. Das haben wir ja schon genug. Wir haben Revolutionäre, die sogar gewählt werden. Ich meine, die Rechten haben ja ein revolutionäres Programm.

Das muss man auch erst einmal verstehen.

Was man aber sehen muss, ist die Ultrastabilität gesellschaftlicher Funktionssysteme, die sich auch durch Revolutionen nicht hintergehen ließe. Deren Codierung in Zahlungs- oder Machtcodes ist brutal in dem Sinne, dass es ein factum brutum ist, genau übersetzt eine geradezu plumpe Tatsache. Heißt: Es wird keine ökonomischen Lösungen geben, die nicht ökonomisch funktionieren, und der politische Prozess wird immer ein Machtmechanismus bleiben. Welche Art von Ordnung entsteht, das ist sehr variabel. Da haben wir ja auf der Welt durchaus unterschiedliche Modelle, und dass unser westliches sich durchsetzt, ist noch lange nicht ausgemacht.

Wir waren bei dieser moderierenden Funktion von Politik und einem institutionellen Arrangement für solche Moderationen. Wir brauchen Ordnungsrecht, was ja die letzten dreißig Jahre für Folklore erklärt worden ist. Können wir probehalber gucken, wie man zu einer problemadäquaten Moderierung kommen könnte?

Wenn man mal empirisch auf sozialen Wandel guckt, und zwar auf geplanten sozialen Wandel, dann orientiert der sich immer an Modellprojekten, das ist doch Ihre These, Herr Welzer?

Ja.

Man muss also schauen: Wo sind die Gelingens-Bedingungen? Man muss Ökonomie und Politik neu aufeinander beziehen, und zwar in dem Sinne, dass es unhintergehbar ist, dass ökonomische, politische, rechtliche, wissenschaftliche oder mediale Logiken nicht aufeinander abbildbar sind. Es kommt auf die institutionellen Formen des Vernetzens an, auf institutionelle Ordnungen. Deshalb muss man etwa Politisches und Ökonomisches neu aufeinander beziehen Aber das ist ein großer und eschatologischer Satz.

Überhaupt alles, wo man etwas »muss«.

Gerade deshalb muss man es lokal, an konkreten Orten, mit konkreten Handlungsmöglichkeiten ausprobieren – selbst der wie in Stein gemeißelte Industriekapitalismus, wie wir ihn kennen, wurde an konkreten Fällen ausprobiert und konnte sich erst ausbreiten, als er sich bewährt hat. Deshalb ist die Preisfrage: Ist es denkbar, dass ganz neue Akteurskonstellationen an einem konkreten Fall in der Lage sind, eine neue mögliche Ordnungsform herzustellen? Genau das machen zum Beispiel städtische Strategien auf dem Weg zur CO2-sparenden Stadt, indem sie die lokalen Akteure unterschiedlicher Provenienz zusammenbringen. Da muss dann der Lokalpolitiker mit dieser Lösung wieder wählbar sein, die lokalen Unternehmen müssen damit Gewinne machen können und für die Verwaltung müssen sozialverträgliche und wirtschaftliche Konzepte her. Überall entstehen Innovationen ziemlich ortsgebunden unter Bedingungen des Gelingens. Mein Lieblingsthema aus der Forschung ist die Palliativmedizin. Die hat sich nicht durchgesetzt, weil man mit großen Sätzen erklärt hat, dass man sie braucht.

Sondern?

Sondern da waren ein paar Inseln, auf denen das gemacht wurde. Begonnen hat es in Großbritannien, in Deutschland war die erste Palliativstation in Köln, das leistungsfähigste und differenzierteste Ausbildungsmodell entstand in München. Durchgesetzt wurde all das, weil man es gegen institutionelle Routinen durchgesetzt hat und durch schlichtes Gelingen überzeugt hat – gegen zum Teil erhebliche Widerstände. Heute ist es obligatorischer Anteil im Medizinstudium, und alle Kassenpatienten haben ein Recht auf Palliativversorgung. Durchgesetzt hat sich das in konkreten Praxisinseln.

Der Klimawandel ist ein sehr, sehr komplexes Problem. Wo können wir die Units finden, in denen das ausgehandelt wird?

Ich bin heute mit dem Flieger hierher geflogen und das liegt nicht daran, dass ich ein Arschloch bin. Das Fliegen liegt daran, dass ich ein Leben führe, in dem es nicht anders möglich ist, wenn ich zwischen einer Sitzung heute Vormittag in München und einem Vortrag, den ich heute Abend bei Stadtplanern in Berlin halte, noch ein Interview in der taz-Kantine einbaue. Da muss man sich natürlich fragen: Ist das eine sinnvolle Art der Arbeitsorganisation oder Lebensform? Ich werde nächste Woche auch viermal innerhalb Europas fliegen. Man sieht, wie tief unser Verhalten in die Routinen dieser beschleunigten Gesellschaft eingelassen ist, das man wahrscheinlich nur vom Hochsitz ganz anderer Alltagspraktiken für schlicht beendbar erklären kann. Man muss sich mal in die frühen und späten Flieger reinsetzen, um zu sehen, dass die meisten da nicht zum Spaß sitzen. Ich werde übrigens auch viel Bahn fahren nächste Woche.

Ja, ja. Schon recht.

Ich will das gar nicht rechtfertigen, sondern ich will sagen: Der Wille, bestimmte Dinge anders zu machen, reicht nicht, wenn keine Routinen dafür vorhanden sind. Lernen geht nur über Routinen und Bedingungen der Bewährung. Innerfranzösische Flüge gibt es nicht mehr, weil die Strecken dort mit der Bahn wirklich funktionieren. Die Lufthansa wäre wahrscheinlich froh, wenn sie den innerdeutschen Verkehr loswerden würde, der ist gerade mal kostendeckend. Auch das ist eine interessante Frage: Warum machen sie das dann eigentlich? Man muss sich mal vorstellen, was los wäre, wenn die Lufthansa sagen würde: Nee, also, das machen wir jetzt nicht mehr.

Also eine Unterbrechung der Routine.

Dann wäre ja die experimentelle Frage: Kann man sowas inszenieren? Wie kann man gezielte Störungen, also Abweichungsverstärkung. würden wir systemtheoretisch sagen, einbauen?

Etwa wie?

Die Ostpolitik ist sowas gewesen. Die Ostpolitik von Willy Brandt hat Sachen gemacht, die nicht gingen. Man kann es vielleicht sogar über den Zehn-Punkte-Plan von Helmut Kohl sagen für die Deutsche Einheit. Kohl hat Sachen gesagt, die eigentlich nicht gingen. Ganz unabhängig, ob man das jetzt unterstützt oder nicht, mir geht es jetzt um die Struktur der Veränderung. Das war geplanter Wandel. Ändern tut sich die Gesellschaft sowieso. Die Frage ist, ob wir einen Zugriff darauf haben, dass wir selber etwas daraus machen.

Was war die Grundverfasstheit der Gesellschaft Anfang der Siebziger, dass Brandt das mit 51 Prozent und großer Polarisierung durchziehen konnte? In der heutigen hysterischen Konsensrepublik schwer vorstellbar.

Ich würde sagen, dass er es machen konnte, ist ein Hinweis darauf, dass es offenbar einen Bedarf dafür gab. Dieser schöne Hegel-Satz, das Wirkliche sei das Vernünftige, der ist immer falsch verstanden worden als Affirmation.

Wir Soziologen sind ja naive Pragmatisten. Uns geht es immer um die Machbarkeit, um die operative Dimension. Wenn wir einen Superartikel schreiben, astrein, dann liest den aber von den relevanten Akteuren eigentlich niemand so richtig. Wie kommen wir weiter?

Nochmal: durch gelingende Projekte. Man muss es machen. In der Flüchtlingskrise ist das gelungen, zum Teil auch denen, die leider ganz anders reden. Die CSU hat in Bayern mit viel Geld eine Menge für die Inklusion von Flüchtlingen getan, nur leider hat sie lange nicht darüber geredet, sondern eher behauptet, dass es nicht geht und dass wir es nicht schaffen, wie das geflügelte Wort dazu heißt. Ich habe gerade ein DFG-Forschungsprojekt bewilligt bekommen, wo wir uns die konkreten Andockstellen von Flüchtlingen angucken und fragen: Was sind die Berührungspunkte zur Gesellschaft und was sind die Bewährungsbedingungen? So müsste das auch beim Thema Klimawandel funktionieren können.

Bei dem geht es aber um künftiges Überleben, also ums Ganze.

Wir müssen das Ganze denken, richtig, aber es gibt keinen operativen Zugriff auf das Ganze. Es geht nicht anders, als es zu übersetzen in konkrete Praktiken.

Aber das darf ja nicht in Pipifax ausarten.

Doch, manchmal muss es in Pipifax ausarten. Und dann muss man nach den Bedingungen der Übertragbarkeit fragen. Und dann muss man die Gelingens-Bedingungen ausprobieren. Eine Gesellschaft ist nun mal so strukturiert, dass wir unterschiedliche Instanzen haben, dass wir Gewaltenteilung haben, dass es keine Lösung aus einem Guss gibt und so weiter. Das muss man inhalieren.

Also nicht: Naturwissenschaft hat das und das festgestellt, deshalb müssen wir Wirtschaft und Gesellschaft so und so umbauen. Das ist der moralische Imperativ.

Gut, dass Sie das sagen. Die Metapher des Umbaus halte ich für sehr verdächtig. Umbauen heißt ja, dass man tatsächlich ein Gesamtkonstruktionsprinzip hat, an dem man was umbauen kann. Das ist das, was ich Linken gerne vorwerfe: Sie sehen nicht, dass während des Umbaus der Laden ja weiterläuft.

Was meinen Sie?

Na, so einen Motor umzubauen, während er sich dreht, das ist echt schwer.

Damit wären wir wieder an dem Punkt, dass Transformationen in einer liberalen Demokratie der Spätmoderne wahnsinnig lange brauchen. Wahrscheinlich braucht es immer eine Generation.

Vermutlich noch mehr.

Wenn wir im einen System Zeit brauchen und in einem anderen keine Zeit haben, was tun?

Man kann die Zeit nicht anhalten – was ja wieder nur eine Metapher dafür ist, dass es keine externe Lösung gibt, kein Aussteigen aus der inneren Logik unserer Praktiken und Strukturen.

Eine These von Ihnen lautet, dass auch eine Revolution im Namen des Klimas zwar unsere zivilisatorischen Errungenschaften verleugnen würde, aber kein einziges Klimaproblem lösen. Könnten Sie das ausführen?

Es ist schon interessant, wie selektiv meine These gelesen wird. Ich habe nur darauf hingewiesen, wie blind manche Forderungen sind, die eine geradezu eschatologische Diagnose mit der Forderung nach geradezu absolutistischem Durchregieren verbinden. Natürlich wird es ordnungspolitische Maßnahmen geben müssen, natürlich wird man auch das eine oder andere regulieren und verbieten, wie es in anderen Politikfeldern auch der Fall ist.

Aber?

Aber wenn man glaubt, dass man das schlicht gegen die Widerstände der Alltagsroutinen vieler Menschen machen kann, ist man schlicht auf dem Holzweg oder muss sich sagen lassen, die zivilisatorischen Errungenschaft der Gewaltenteilung und der Vermeidung von absolutem Durchgriff nicht verstanden zu haben. Dafür habe ich die Diagnose der Denkfaulheit gebraucht, und manche Reaktion darauf bestätigt das. Außerdem bin ich mir sicher, dass nur in liberalen Gesellschaften so viel Kreativität entsteht, dass man neue Lösungen findet. Wir feiern gerade dreißig Jahre Mauerfall und freuen uns darüber, dass es in der DDR damals keine »chinesische Lösung« gab. Auch für den Klimawandel wird es die nicht geben, also eine Lösung des zentralistischen Durchregierens mit der Fantasie, die Industriegesellschaft per Order herunterfahren zu können.

Deutsche Wissenschaftler und auch grüne Politiker sagen gern: Die Lösungen sind alle da.

Die Ziele sind alle da. Die Lösungen noch nicht, obwohl bereits mehr getan wird, als es allgemein bekannt ist – man schaue in die Forschungslabors, in die Unternehmen, in die Stadtplanung und Architektur und so weiter. Aber selbst, wenn wir genau wüssten, was zu tun ist, und das war ja der Ausgangspunkt dieses Gesprächs: Je genauer man es weiß, umso größer ist die Widerständigkeit der Gesellschaft. Und diese Widerständigkeit ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Wir stehen also vor nichts Geringerem als der Quadratur des Kreises.