Tanz den Kongress

WATERLOO Napoleons letzter Schlacht ging der Wiener Kongress voraus. Der hatte sogar schillernde Aspekte, wie neue Bücher erinnern

In Wien wurden Damen der Gesellschaft, in aller Regel Mätressen, zu klugen Beobachterinnen des Geschehens und zu politischen Akteurinnen

VON MICHA BRUMLIK

Einen besseren Zeitpunkt, historische Darstellungen zu Napoleon und dem Wiener Kongress zu besprechen als die unmittelbare Gegenwart, lässt sich kaum denken. Wird doch vor der Kulisse des G-7-Treffens in Elmau deutlich, wie veraltet entweder das dort stattfindende Ritual ist oder wie modern und zeitgemäß der Wiener Kongress war, der nach Napoleons Niederlage in Waterloo nicht nur stattfand, sondern regelrecht gefeiert wurde.

Damals – so die herkömmliche, etwa von Henry Kissinger vertretene Erzählung – wurde nach den Kriegen, mit denen das zunächst revolutionäre, dann kaiserlich-bürgerliche Frankreich Europa von Spanien bis nach Russland überzog, jenes lange, friedliche Jahrhundert auf den Weg gebracht, das erst im September 1914 aufgrund des Nationalismus und der Torheit aller Beteiligten blutig beendet wurde.

Die am 18. Juni 1815, vor zweihundert Jahren geschlagene Schlacht von Waterloo, die das napoleonische Zeitalter beendete, war letztlich nichts anderes als das unglückliche Nachhutgefecht eines Losers, eines Politikers, der längst besiegt war und eben nicht – wie etwa der Schriftsteller Stefan Zweig in seinen historischen Miniaturen meinte – eine „Sternstunde der Menschheit“.

Detailreich und auf neue Quellenfunde, vor allem auf Aufzeichnungen von Napoleons „Außenminister“ Armand de Caulaincourt gestützt, weist der britische Historiker Munro Price nach, in welchem Ausmaß der in Russland geschlagene, in Leipzig bereits besiegte und nach Elba verbannte Napoleon jeden Kontakt zur Realität verloren hatte und sich träumerisch der Illusion hingab, von den Franzosen noch einmal akzeptiert zu werden. Doch waren es nicht nur unverbesserliche französische Reaktionäre, die schließlich Napoleons Feinde, Großbritannien, Österreich, Preußen und vor allem Russland, unterstützten, sondern durchaus nicht wenige, die noch zwanzig Jahre zuvor sowohl die Französische Revolution als auch Napoleons Machtübernahme unterstützt hatten, dann aber zur Einsicht kamen, dass dessen faktische Politik alles, was an ihr ursprünglich progressiv war, zerstörte.

Das 1814/1815 besiegte und neu legitimierte Frankreich aber saß mit an den Tischen jenes Kongresses, der als „tanzender Kongress“ in die Geschichte eingehen sollte und der doch nur der letzte einer Reihe internationaler Konferenzen in jener Zeit war. Dieser Kongress fand vom September 1814 bis zum 9. Juni 1815 statt – der einige Tage später errungene Sieg über den von Elba ausgebrochenen Napoleon sollte an seinen Ergebnissen nichts mehr ändern.

Dieser internationalen Versammlung, die – nicht unähnlich der Konferenz von Jalta im Zweiten Weltkrieg – von Anfang an von einem steigenden Misstrauen der Siegermächte untereinander gekennzeichnet war, widmet der einem polnischen Adelsgeschlecht entstammende Historiker Adam Zamoyski eine ebenso panoramatische wie dramatische, glanzvolle Darstellung, die auf Englisch bereits 2007 erschien und von Ruth Keen und Erhard Stölting ebenso brillant übersetzt wurde. Gleichwohl stellt der Band über Hunderte von Seiten kaum mehr als eine höchst lebendig erzählte Geschichte von Politik, Kriegen und Diplomatie dar, die sich nur am Rande sozialhistorischen Fragen öffnet.

Dafür lernt das lesende Publikum Politiker kennen, die oft als Reaktionäre verschrieen, gleichwohl kluge, verantwortungsvolle Köpfe und geistreiche Autoren waren: der aus dem Rheinland stammende Außenminister des österreichischen Kaisers, Klemens von Metternich, der britische Außenminister Robert Stewart Viscount Castlereagh sowie der überaus geistreiche Publizist Friedrich von Gentz.

Gentz, ursprünglich ein Anhänger der Französischen Revolution, wurde schnell einer ihrer schärfsten Gegner: Seine Übersetzung von Edmund Burkes 1790 erschienenen „Reflections on the Revolution in France“ machte ihn als Begründer konservativen Denkens auch im deutschen Sprachraum bekannt.

Castlereagh schließlich war es – das weckt Erinnerungen an die Gegenwart –, der verhinderte, dass Großbritannien sich an der von Russland dominierten, reaktionären Heiligen Allianz beteiligte. Daher tut dem Wiener Kongress Unrecht, wer ihn nur als Fest reaktionärer Politik betrachtet. Immerhin wurden dort nicht nur Fragen der Emanzipation der Juden verhandelt, sondern auch – vor allem auf Betreiben Großbritanniens – ein Verbot des (transatlantischen) Sklavenhandels: Im Januar 1815 unterzeichneten Großbritannien und Portugal einen Vertrag, wonach Portugiesen nördlich des Äquators in Afrika keine Sklaven mehr kaufen durften – im Gegenzug erließ die britische Regierung Portugal die Rückzahlung eines Kredits von 600.000 Britischen Pfund.

Nicht zuletzt aber wird der Wiener Kongress ein Ereignis der Gendergeschichte bleiben. Und zwar nicht nur deshalb, weil er mit seinen Bällen und Empfängen für die damalige elegante Welt das war, was heute Hollywoods Roter Teppich oder die Fashion Weeks sind, sondern auch, weil in Wien Damen der Gesellschaft, in aller Regel Mätressen, zu eigenständigen, klugen Beobachterinnen des Geschehens und damit auch politischen Akteurinnen wurden.

Die Autorin Hazel Rosenstrauch hat diesem Aspekt eine eigene Monografie gewidmet. Dass sich darüberhinaus nicht zuletzt die britischen Konferenzteilnehmern mit den Wiener Mädeln, mit Prostituierten aber auch „ehrbaren“, noch nicht verheirateten jungen Frauen vergnügten, steht auf einem anderen Blatt.

Vor allem aber ist Zamoyskis Darstellung eine schallende Ohrfeige für den anfangs erwähnten ehemaligen US-amerikanischen Außenminister Henry Kissinger, der 1962 eine damals wegweisende Monografie zum Kongress, genauer gesagt zu seinen angeblich friedensstiftenden und realistischen Staatsmännern Metternich und Castlereagh vorgelegt hat.

Ihn widerlegt Zamoyski überzeugend: „In Wirklichkeit“, so Zamoyski entgegen Kissinger und anderen Historikern, „hat es einen ‚hundertjährigen Frieden‘ nicht gegeben. Sicherlich brach vier Jahrzehnte lang kein allgemeiner europäischer Krieg aus – aber auch nicht in den drei Jahrzehnten vor 1793.“ Zamoyski resümiert: „Indem dieses System in Wirklichkeit jede Veränderung ächtete, die aus dem Volk kam, ohne die Macht des Herrschers … zu begrenzen, brachte es normale Entwicklungsprozesse zum Stillstand.“

Daher konnte, so Zamoyskis Überzeugung, „ein Wandel nur über eine gewaltsame Revolution kommen“.

Munro Price: „Napoleon. Der Untergang“. Aus dem Englischen von Enrico Heinemann und Heike Schlatterer. Siedler Verlag, München 2015, 462 S., 24,99 Euro

Hazel Rosenstrauch: „Congress mit Damen. Europa zu Gast in Wien 1814/1815“. Czernin Verlag, Wien 2014, 144 S., 19,90 Euro

Adam Zamoyski: „1815 – Napoleons Sturz und der Wiener Kongress. Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting. C. H. Beck, München 2014, 704 S., 29,95 Euro