: Die Rache der Autorin
LITERATUR Im Roman „Sonnenschein“ der kroatischen Schriftstellerin Dasa Drndic geht es um Haya, die als einzige Überlebende ihrer Familie auf die Heimkehr des Sohnes wartet. Die Autorin verwebt recherchierte Fakten und rachlustige Fiktion. Eine Begegnung
VON SONJA VOGEL
Seit 62 Jahren hockt Haya Tedeschi in ihrer Wohnung in der Via Aprica 47 in Gorizia. Die alte Frau, sie ist mittlerweile 83 Jahre alt, sitzt in ihrem Schaukelstuhl und wartet auf ihren Sohn. Den hatten die Nazis im April 1945 geraubt, direkt aus dem Kinderwagen. „Fünf Monate nach seiner Geburt verschwindet Antonio Toni Tedeschi, als hätte es ihn nie gegeben“, heißt es lakonisch in Dasa Drndic’ Roman „Sonnenschein“. Seither schichtet Haya Tedeschi die Lagen ihrer Erinnerung um, unermüdlich: Postkarten, Fotos, Zeitungsausschnitte, Fragmente ihrer jüdischen Familiengeschichte und Material über die deutsche Besatzung.
Zwei Jahre lang hat die kroatische Autorin Dasa Drndic in Archiven recherchiert, um ein Panorama der Grenzregion Triest zu entwerfen. „Sonnenschein“ ist ein Hybrid, das Buch pendelt zwischen historischen Dokumenten und Fiktionalem. Herausgekommen ist eine europäische Epochengeschichte, von der Donaumonarchie bis zu den postjugoslawischen Staaten; zerklüftet wie die Familiengeschichte der Tedeschis, die wie ein roter Faden durch die 400 Seiten führt, sind Hayas Erinnerungen. Deren Einzelteile liegen in einem Korb, neben dem Schaukelstuhl. „Aus ihm holt sie ihr Leben und hängt es an die imaginäre Leine der Wirklichkeit.“ Stück für Stück ordnet sie so ihre Familiengeschichte.
Die beginnt und endet im italienischen Gorizia, das auf Deutsch Görz heißt und auf Slowenisch Gorica. Auf drei Zeitebenen, in nüchternen Rückblenden und detailreichen Erinnerungen, folgt Drndic der Familie durch die Donaumonarchie, den Ersten Weltkrieg, nach Italien, wohin sie vor den Rassengesetzen fliehen, dann nach Albanien und schließlich zurück in die nun italienisch-jugoslawische Grenzregion.
Die Familiengeschichte der Tedeschis ist nicht fiktiv. Dasa Drndic stieß vor einigen Jahren auf den Blog einer Familie aus Gorizia. Vor allem dessen Ton, die Selbstdarstellung der Familie als Opfer ihrer Zeit, fesselte sie. Wie die Tedeschis waren sie jüdisch, entgingen aber dem Holocaust, indem sie zum Katholizismus konvertierten und sich Mussolinis Faschisten anschlossen. „Ich war so wütend“, erzählt Drndic bei einem Treffen in Leipzig. „Sie wurden schuldig auf ihre Art.“ Sie rückt ihre Sonnenbrille kurz hinab, nur um scharf über deren Rand zu blicken. Drndic begann also zu schreiben. „Die Familie Tedeschi ist eine umgängliche Familie, eine Familie schweigsamer bystander, und wenn sie nicht schweigen, dann sprechen sie für den Faschismus“, heißt es im Buch.
Den Familiennamen änderte sie, weitete die Geschichte aus, unterfütterte sie mit Recherchen – ganz so, als wolle sie die Familie so der Lüge überführen. Dass sie die Protagonistin 62 Jahre auf ihren Sohn warten lässt, ist die Rache der Autorin an einer Familie unter vielen, die es sich bequem machte, als die NachbarInnen in Viehwaggons davongekarrt wurden, über Triest in das nahe KZ San Sabba, nach Mauthausen, Treblinka. Seitenlang listet Drndic die historischen Transporte auf: Kennziffer, Startpunkt, Ziel, Ladung, Todeszahl.
Drndic geht in ihrer Rachelust noch weiter. Sie dichtet Haya Tedeschi eine Affäre mit einem SS-Mann an. Von denen wimmelte es in der Region Triest, die nach der Kapitulation Italiens Adriatisches Küstenland genannt worden war. Hitler hatte nach dem Ende der „Aktion Reinhardt“ Dutzende Topnazis dorthin verlegt. Für Haya ist es eine schöne Zeit. Sie schwärmt für Kristina Söderbaum, blond, blauäugig, das Gesicht der Nazi-Propagandafilme – und sie schwärmt für Kurt Franz: „Der Deutsche holt eine Voigtländer Bessa aus der Tasche, beugt sich über die Theke, blickt Haya tief in die grünen Augen und sagt, einen 120er Film bitte, bitte einen Kodak, sagt er leise, als würde er ihr am offenen Kamin atemlos ins Ohr flüstern, ziehen Sie sich aus.“ Kurt Franz war der letzte Kommandant von Treblinka, gebildet und schön, bekannt für seine Tierliebe und seinen Menschenhass. In „Sonnenschein“ ist er der Vater des entführten Babys.
Es ist ein interessante Nebenerzählung, die Drndic hier einflicht. Denn die Geschichte der von den Nazis zu Tausenden aus den besetzen Gebieten geraubten Kinder ist bis heute kaum bearbeitet. Über Lebensborn-Einrichtungen waren sie an ausgewählte Eltern im Reich verteilt worden, um die dezimierte „Herrenrasse“ aufzustocken. Dass dies Kinder zumeist slawischer Mütter waren, ist eine Ironie der Geschichte. Dass sie bis heute, in ihren Siebzigern, kaum Zugang zu Archiven haben, eine Tragödie. Auch deshalb hat sich Drndic gewünscht, dass „Sonnenschein“ – so lautet auch der kroatische Originaltitel – in Deutschland erscheint. Zuvor wurde er bereits in zehn andere Sprachen übersetzt.
In Kroatien war der Roman nicht besonders erfolgreich, zu sehr rührt er an die unrühmliche Nähe des Landes zum Faschismus. Dasa Drndic wundert das nicht. Sie hat ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrem Heimatland: 1946 in Zagreb – damals Jugoslawien – geboren, ging sie zum Studium nach Belgrad, nach Kanada und in die USA. 14 Jahre verbrachte sie in der heutigen serbischen Hauptstadt. Als sie nach Kroatien zurückkehrte, passte vielen ihr serbischer Zungenschlag nicht. „Ich habe ihn mir nicht abgewöhnt“, sagt Drndic. Dabei zieht sie an ihrer Zigarette, extra slim und extra lang. Zurück bleibt der Abdruck ihres roten Lippenstifts. Für sie ist das eine Sache des Prinzips, denn sie ist eine vehemente Kritikerin des postjugoslawischen Nationalismus. Heute lehrt sie Englische Literatur an der Universität in Rijeka.
„Roman“ steht auf dem Buchcover, aber „Sonnenschein“ ist eigentlich ein Puzzle. Der Faden der Familiengeschichte reißt immer wieder ab, der Fluss wird unterbrochen durch Liednoten, Gedichte, Auszügen aus Lexika. Das sperrige Rohmaterial steht dort, wo es nichts mehr zu sagen gibt. Nicht immer ist es einfach, dem Buch zu folgen bei all den Nebenerzählungen, die oft nirgendwo hinführen. Das ist aber nicht schlimm, denn Drndic’ feine Sprache, die Mischung aus Drastik und Poesie, fängt die LeserInnen immer auf. Und manche Dinge müssen einfach stehen bleiben. Was nämlich soll über die mehr als 9.000 Jüdinnen und Juden gesagt werden, die zwischen 1943 und 1945 aus Italien deportiert worden sind? Sie stehen einfach in einer langen Liste im Buch.
„Hinter jedem Namen verbirgt sich eine Geschichte“, lautet das Motto dieses Kapitels – aber so ist es eben nicht, die Geschichten der Ermordeten können nicht mehr erzählt werden. Im Original sind darum die Seiten perforiert; man kann sie heraustrennen, so dass eine Lücke im Buch bleibt. Ein haptisches Erleben einer Leere. „Die Geschichte hat diese Namen verschlungen“, erklärt Drndic. Ähnlich interaktiv funktioniert eine Kartografie von Nazi-Offizieren, die straflos geblieben sind: Die Seiten sind nicht aufgeschnitten worden. Man muss zum Messer greifen, den Tätern zu Leibe rücken. Die deutsche Version kommt ohne diese drucktechnischen Finessen aus. Dennoch: Das Cover ist drastisch, ein schwerer gelber Kasten mit SS-Runen, die Seiten sind unterschiedlich lang, so dass der Anschnitt zackig ist.
Das Buch hat mittlerweile ein Eigenleben entwickelt, es wächst. „Ich bekomme immer noch Briefe von Enkeln der Toten“, erzählt Drndic. Sie ist stolz darauf, dass „Sonnenschein“ ein offenes Archiv ist, in den Neuauflagen werden neue Namen hinzugefügt. Das ist faszinierend, denn genau um das Durchbrechen der Spirale des Verdrängens und des Verleugnens der eigenen Verantwortung ging es der Autorin. Drndic will „Sonnenschein“ deshalb auch als Allegorie auf die jugoslawischen Bürgerkriege der Neunziger Jahre verstanden wissen. „Aber ich wollte nicht so direkt darüber schreiben, damit die Leute es auch lesen“, erklärt sie. Und so endet das Buch, wie es begonnen hat: bei ganz persönlichen Tragödien, die sich kaum jemand zu erzählen traut, die noch immer ungeordnet in einem großen Korb darauf warten, an die Wäscheleine der Wirklichkeit gehängt zu werden.
■ Dasa Drndic: „Sonnenschein“. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert und Blanka Stipetic. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015, 400 Seiten, 24 Euro