: Gesten des Trotzes und der Wut
TANZTHEATER Persönlich und distanziert zugleich: Die Choreografie „La Fille – Porträt eines Kindes“ von Christoph Winkler im Ballhaus Ost
Abhängigkeit macht bockig. Jeder weiß das. Sichtbar und hörbar wird das in der Wut des Kleinkinds, das jetzt nicht sitzen bleiben will im Wagen, aber auch nicht vorwärtslaufen, nervtötend sichtbar und hörbar. Aber ganz dicht neben diesen unerträglichen Ausbrüchen wohnt auch der Charme des Kindes, seine Liebenswürdigkeit und sein bedingungsloses Vertrauen.
Mit dieser Ambivalenz von Gefühlen und Haltungen, die schon durch den Körper eines kleinen Kindes toben, beginnt das Solo-Tanzstück „La Fille – Porträt eines Kindes“, das Emma Daniel in der Choreografie von Christoph Winkler tanzt. Allein schon wie ihr Gesicht die Niedlichkeit des Kindes widerspiegeln kann, sein Staunen über die Welt, seine Freude, den aufsteigenden Unmut, ist verblüffend zu beobachten. Das Spiel mit der Körpersprache des Krabbelns ist lustig und überraschend, wie gut die alte Ballettmusik „La fille mal gardée“ aus dem 18. Jahrhundert zu den wechselnden Stadien von Weltentdeckung und schmollendem Rückzug passt.
In diesem Prolog steckt schon der Kern des Stücks, das sich bald zu einer sensiblen Charakterstudie eines Mädchens entwickelt, die nicht kalkulierbar ist in ihren Stimmungswechseln. Die zierlichen Schritte, die geöffneten Arme, mit denen sie immer wieder aufs Neue einen Tanz angelehnt an die Ballettmusik beginnt, werden zerschossen von plötzlichen Stockungen, Fäuste ballen sich, Füße kicken, Aggressivität blockiert den Fluss der Bewegung. Wieder und wieder wird sie von diesen Mutationen ergriffen; und mit jeder weiteren Runde scheint ein Ausweg aus den Blockaden unwahrscheinlicher, eine Kontaktaufnahme ferner. Einmal übt sie gequält einen Satz, „I’m sorry“, um dann ein „not“ einzuschmuggeln, eine kleine harte Silbe, in die sie ihren ganzen zornigen Körper wirft.
Fragen und Checklisten
Fast eine Stunde dauert dieses Solo, ohne langweilig zu werden. Es ist gerahmt von wenigen Texten, an die Rückwand der Bühne projiziert: Fragen und Checklisten, mit denen Pädagogen und Soziologen das Verhalten auffälliger Kinder einzuordnen suchen. Es liegt kein Trost in diesen Sätzen und noch weniger in den Zetteln, die Emma Daniels am Ende in eine Kamera hält: Protokolle aus der Notaufnahme eines Krankenhauses, in die sich die junge Frau, die eigenen Depressionen fürchtend, selbst eingeliefert hat. Kein Kommentar wird zugeschaltet, es bleibt das hilflose Erschrecken.
Emma Daniel hat schon in Winklers Stück „RechtsRadikal“ mitgetanzt, und auch da ging es um junge Frauen, die sich mit trotzigen Gesten der Selbstermächtigung in einen Raum zurückziehen, in den sie die Außenwelt nicht blicken lassen wollen. „RechtsRadikal“ war in einen politischen Kontext gestellt, dröhnend von Erwartungen; gerade dass sie unterlaufen wurden, das Stück letztendlich nicht erklären konnte, warum die jungen Frauen sich so entscheiden, war eine Stärke des Stücks.
„La Fille – Porträt eines Kindes“ beruht auf einer anderen Erfahrung. Man kann es auf dem Programmzettel oder in dem Pressetext lesen, dass Christoph Winkler mit diesem Stück versucht, die Geschichte seiner Pflegetochter zu reflektieren. Bei ihr wurde eine Bindungsstörung diagnostiziert, sie lebt inzwischen in einer therapeutischen Wohngruppe. Warum er ihr als Vater nicht das nötige Gefühl von Sicherheit und Vertrauen geben konnte, ob der Verlauf unausweichlich war, das sind die Fragen, die er sich nicht beantworten kann und die ihn zu dem Stück veranlasst haben.
Die Rolle des Vaters ist auf der Bühne allerdings nicht sichtbar. Sie hat zwar dem Blick auf das junge Mädchen die Perspektive vorgegeben; aber der Raum auf der Bühne gehört ihr allein. Er ist groß, und sie ist einsam darin. Einmal markiert sie mit einem Huhn und einem Hahn Streitgespräche mit Erwachsenen, packt das Federvieh aber bald in eine Kiste. Einerseits erkennt man in dieser minimalistischen Anlage die Handschrift des Choreografen; andererseits aber transportiert sie auch das Gefühl der Verlassenheit und der Hilflosigkeit angesichts der familiären Probleme. Persönlich und distanziert zugleich ist diese Erzählweise. KATRIN BETTINA MÜLLER
■ Wieder am 30./31. Mai, 20 Uhr, Ballhaus Ost, Pappelallee 15