80 JAHRE NACH STEFAN GROSSMANNS TOD 1935 ERSCHEINT NUN SEIN ROMAN „WIR KÖNNEN WARTEN ODER DER ROMAN ULLSTEIN“ : Der Untergang des Verlagshauses Kronstein in Berlin
BERLIN AUF BLÄTTERN
Als Stefan Großmann 1935 mit kaum sechzig Jahren in Wien starb, hatte er nicht ahnen können, welches Elend die Nazis noch über Europa bringen würden. Großmann war ein sehr bekannter Journalist, zudem war er der Begründer der Freien Volksbühne für die Wiener Arbeiter, die nach dem Vorbild der Berliner Volksbühne angelegt wurde. In seiner Autobiographie schreibt er über diese Gründerzeit, also die Jahre 1912/13: „Ich war zum Kritiker der Arbeiterzeitung aufgerückt und gleichzeitig ihr Chroniqueur. Ich war als Feuilletonkorrespondent des Berliner Tageblattes tätig und leitete nebenbei, von meinen jungen Malern freudig unterstützt, das Witzblatt der Partei, Die Glühbirne. Dazu kam das bißchen Volksbühnenarbeit, die Arbeit des Dramaturgen, des Regisseurs und des Bändigers der Kinder, nämlich der Schauspieler.“
Doch 1913, magenkrank und zermürbt durch Querelen mit Stadt und Mitarbeitern, kehrte er seiner Geburtsstadt Wien den Rücken und ging nach Berlin. Dort gründete er 1920 zusammen mit Ernst Rowohlt die Wochenschrift Das Tage-Buch, die sehr erfolgreich war, als radikaldemokratisches Organ galt und den Behörden der Weimarer Republik schwer zu schaffen machte. Nebenher veröffentlichte er zig Dramen, Novellen und Geschichten.
Doch die Veröffentlichung des Romans „Wir können warten oder Der Roman Ullstein“ erlebte er nicht mehr – und so erschien dieser erst 80 Jahre nach seinem Tod. Erhard Schütz hat das Typoskript nun publiziert, und auch wenn der Roman zuweilen etwas holprig zu lesen ist, da die Anschlüsse nicht ganz stimmen (und Erhard Schütz natürlich nicht eingegriffen hat), so ist dieser Ullstein-Roman doch ein ganz besonders großes Lesevergnügen.
Denn Großmann beschreibt den Untergang des Verlagshauses Kronstein in Berlin, das dem Ullsteinkonzern ungemein ähnelt, mit der Genauigkeit des Kenners und mit der Lust dessen, der sich rächen will.
Bei Kronstein sorgt man sich nämlich Anfang der Dreißigerjahre im Vorstand, der aus sechs Brüdern besteht, vor allem um die Erlöse aus dem Anzeigengeschäft, daher ist man bereit, die eher linksliberale Haltung, die die Tageszeitungen des Konzern prägen, zugunsten einer Boulevardisierung der Nachrichten zu opfern, auch macht man immer mehr Platz für Texte, in denen die nationale Erweckung herbeigesehnt wird. Dass die nationalen Kräfte aber die jüdischen Besitzer niemals als Teil ihrer Bewegung sehen werden, geht den Brüdern nicht auf.
Zudem ist das Haus in einer Führungskrise, denn der älteste der Brüder verlobt sich mit einer allzu jungen, politisch sehr klugen Journalistin, was wiederum die anderen als Affront begreifen – und als Versuch einer Frau, die Macht an sich zu reißen, noch heute denken Zeitungsherren ja so. Zugleich arbeitet die Regierung an einer Zerschlagung des Konzerns, allen voran ein Gottfried von Eysler, der eine herrliche Karikatur des späteren Reichskanzlers Franz von Papen ist, der wiederum Hitler ins Amt hievte.
Großmann würzt seine politische Erzählung mit Liebeständeleien und Betrünknissen, und er schildert die Vorgänge mit einem schmalen, aber glaubwürdigen Figurenensemble so spannend, dass man dem Schlüsselroman auch da gern folgt, wo man die realen Vorbilder nicht unmittelbar erkennen kann.
Das Traurige aber kommt zum Schluss. Die beiden sympathischsten Figuren verlassen Berlin, um nicht „unanständig“ werden zu müssen, und sagen, zurückblickend: „Es wird vielleicht ein paar Jahre dauern, bis uns das andere, das ewige Deutschland zurückrufen wird, dich und mich. Aber wir können warten.“ Großmann hat nicht ahnen können, dass es massivste Waffengewalt brauchte, um ganz Europa von diesem Deutschland zu erlösen.
■ Stefan Großmann: „Wir können warten oder Der Roman Ullstein“. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2015, 384 Seiten, 22,99Euro
■ Jörg Sundermeier ist Verleger des Verbrecher-Verlages.