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Archiv-Artikel

Und erlöse uns von der Finsternis

VERSÖHNUNG Beim „Marsch des Lebens“ laufen evangelikale Christen die Route der Todesmärsche von KZ-Häftlingen nach – die Veranstalter sagen, es gehe um „Heilung“. Ein Stimmungsbild vom Marsch in Lübeck

VON E. F. KAEDING

Die Wetterlage scheint ungünstig: Über dem historischen Gustav-Radbruch Platz in Lübeck droht finster eine regenschwangere Wolke den etwa 40 Teilnehmern des „Marsches des Lebens“. Die überwiegend älteren Männer und Frauen, die hier sind, fürchten sich aber nicht vor ein bisschen Regen. Sie tragen T-Shirts mit dem Logo der Veranstaltung, das Stacheldraht und einen stilisierten gelben „Judenwinkel“ zeigt, verharren andächtig, als eine Klezmer-Klarinette ertönt, und hören einem geladenen Historiker zu.

1933 fand an diesem Ort die letzte große Demonstration gegen den Nationalsozialismus statt – und in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 trieben SS-Wachmänner KZ-Häftlinge aus Auschwitz über den Platz in Richtung Neustadt in Holstein an der Lübecker Bucht. Die Strecke dieses Todesmarsches, der am 3. Mai 1945 in der Cap-Arcona-Katastrophe endete, wollen die Teilnehmer nachgehen: 30 Kilometer an zwei Tagen.

Den Teilnehmern geht es dabei aber um mehr als nur um Gedenken. Sie wollen persönlich für das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts Buße tun. Das zumindest ist die Überzeugung Jobst Bittners, dem Initiator des „Marsches des Lebens“. Bittner ist Gründer der Freikirche „Tübinger Offensive Stadtmission“, einem „Missionswerk evangelikal-charismatischer Prägung“, für die die Bibel letzte Instanz in der Lehre und in der Lebenspraxis ist.

In den Familien, Gemeinden und Städten liege noch immer eine „Decke des Schweigens“ über den Nazi-Verbrechen, heißt es in Bittners gleichnamigem Buch. Das verhindere bis heute „Heilung, Versöhnung, und Wiederherstellung“. In bibeltreuer Rhetorik schreibt Bittner: Den „geistliche(n) Kampf zwischen Licht und Finsternis“ gewinne nur, wer die Erkenntnis der eigenen Schuld suche.

Heute lässt Bittner lediglich Grußworte an die Umstehenden am Gustav-Radbruch Platz ausrichten. Er selbst ist nicht vor Ort. Ebenso wenig wie jemand von der Landeskirche, wie ein Teilnehmer der Veranstaltung später verdrießlich einem Marsch-Kollegen mitteilt: „Keine Kirchenvertreter, keine Offiziellen – gar nichts!“ Niemand solle sich wundern, so der Mann weiter, wenn die Saat des Bösen dann irgendwann erneut aufgehe. Dabei haben die Organisatoren bei weiteren christlichen Gemeinden um Teilnahme geworben. Aber die Nordkirche ist skeptisch gegenüber der Bewegung „Marsch des Lebens“.

Die Amtskirche stößt sich an der Behauptung Bittners, es gebe eine „Decke des Schweigens“ über den Verbrechen des Nationalsozialismus. „Das Thema NS ist allgegenwärtig“, so die Erklärung aus dem Referat für den christlich-jüdischen Dialog der Nordkirche; die Liste der Orte, an denen Aufklärung betrieben werde, sei „unendlich lang“.

Für ebenso problematisch hält man im Referat offenbar den christlichen Zionismus der Bewegung, der für Evangelikale theologisches Selbstverständnis ist. Die „Marsch des Lebens“-Bewegung bekennt sich dazu, in Freundschaft an der Seite des Staates Israels zu stehen. Ein Gedenkmarsch für Holocaust-Opfer werde damit politisch instrumentalisiert, kritisiert die Nordkirche. Diese Vermischung von Politik und Religion sei „fatal“. Außerdem sei die unbedingte Forderung nach Buße weder biblisch noch christlich.

Sie hätten eben ein anderes theologisches Verständnis, sagt ein Teilnehmer, der eine Israel-Flagge über der Schulter trägt, nüchtern. Aber er gibt zu, dass er die Kritik der Nordkirche als „heftig“ empfindet. Ein anderer Mann, dessen Bruder nach eigener Auskunft Nazi war, ist angriffslustiger: Er habe sich vorgenommen, auf die Missbilligungen schriftlich zu reagieren. Die Forderung nach unbedingter Buße stehe genau so in der Bibel.

Einer Gruppe von Touristen, die, von ihren Fahrrädern abgestiegen, eine Pause einlegt, werden im Vorbeigehen Info-Flyer zugesteckt. Nach vier Kilometern erreichen die 40 Teilnehmer des Marsches dann den Vorwerker Industriehafen. Eine Mitarbeiterin des Hafens verteilt Warnwesten und bekommt im Gegenzug ebenfalls einen Flyer angeboten.

Der Historiker führt über das Gelände zu einer Gedenktafel und berichtet über das Grauenvolle, das hier passiert ist: Häftlinge aus dem KZ Neuengamme wurden auf Frachtschiffe verladen, starben vor Erschöpfung, wurden ermordet. Stille. Jeder der Teilnehmer legt eine weiße Rose nieder. Jemand bläst ein Schofarhorn, das rituelle jüdische Musikinstrument. Ein Mann, auf dessen Jutebeutel ein großer Davidstern genäht ist, hält mit einer Flagge Israels in der Hand Mahnwache. Vielen Teilnehmern ist die Dokumentation dieses Moments wichtig. Ihre Fotoapparate und Smartphones klicken ausgiebig während der Schweigeminute. Die missbilligenden Blicke der anderen Teilnehmer bleiben wirkungslos.

In einem offenem Brief geht Bittner auf die Kritik der Nordkirche ein. Sein Marsch sei eine Ergänzung im Spektrum der Gedenkkultur, keine Konkurrenz. Der Konkurrenzgedanke aber sei es, vermutet Bittner, weshalb seine „ökumenische Basisbewegung“ „dämonisiert, diskreditiert und ausgegrenzt“ werde. Andere innerkirchliche Versöhnungsdienste hätten Angst, infrage gestellt zu werden, weil seine Erinnerungsarbeit so erfolgreich sei.

Tatsächlich veranstaltet das Netzwerk „Marsch des Lebens“ allein in Deutschland dieses Jahr fast 50 Märsche. Manche haben 40 Teilnehmer, andere, wie vor wenigen Wochen in Hamburg, bis zu 250. „70 Jahre dankbar nach vorne gehen“ ist das Motto an diesem Wochenende in Berlin. „Gibt dem Marsch des Lebens dein Gesicht!“, fordert die Initiative auf ihrer Internetpräsenz begeistert: Lass dich fotografieren! Spenden für den „Marsch des Lebens“ in Gedenken an Holocaust-Opfer gehen auf das Konto von Bittners „Offensiver Stadtmission“ in Tübingen.

Am Ausgang des Hafengeländes übergibt die Gruppe die geliehenen Warnwesten. Viele bedanken sich und wünschen der Hafen-Mitarbeiterin einen guten Tag. Dann schlägt eine Frau die Bibel auf, liest aus Psalm 17: „So eng hat der Feind uns umzingelt, dass wir keinen Schritt mehr ungehindert gehen können. Seine Absicht ist klar – er will uns alle niederstrecken. Erhebe dich, Herr, komm ihm zuvor und wirf ihn nieder! Rette mich mit deinem Schwert vor diesen gottlosen Verbrechern …“

Sie holt Luft: „Und Vater, wir beten dies für die gesamte Gruppe.“ Dann schaut sie zurück zum Hafen und bedankt sich bei Gott dafür, dass er ihr diesen „Überrest“ gezeigt hat. Diesen Überrest, der ihr die Erkenntnis geschenkt hat, und sie nun aus der Finsternis ins Licht führen wird. Ihre Freundin nickt zustimmend. Ein Teilnehmer macht noch ein Foto, dann marschieren sie gemeinsam Richtung Landstraße über Ahrensbök nach Neustadt in Holstein. Für die, die nicht mehr weiter können, steht ein Begleitauto bereit.