: Wohin mit der Betroffenheit?
VERGEWISSERUNG Der Tod der dreijährigen Yagmur in Hamburg hat viele, die den Prozess gegen die Mutter verfolgt haben, aufgerüttelt. Doch gibt es überhaupt Formen des Gedenkens, die hier greifen? Zwar hat man in Hamburg schon eine Straße nach einem NSU-Opfer benannt, doch die Regel ist das noch nicht
VON FRIEDERIKE GRÄFF
Über Erinnerung habe ich bislang selten nachgedacht, zumindest nicht über eine, die im öffentlichen Raum stattfindet. Es gab keinen Anlass dazu. Im vergangenen Jahr war ich als Journalistin im Prozess gegen die Eltern der getöteten Yagmur. Ich war nicht lange dort, weil er mich auf eine Weise aus der Bahn warf, mit der ich nicht gerechnet hatte.
Ich habe Yagmur nie getroffen, ich habe nur Fotos von ihr gesehen im Internet. Einmal guckt sie mit geneigtem Kopf aus einem Buggy, verschmitzt, auf einem anderen sieht man sie zwischen den Eltern, sie wirkt eingeklemmt zwischen ihnen und eingeschüchtert, aber das kann ich mir einbilden im Wissen darum, was später mit ihr geschehen ist.
Eine Mitarbeiterin des Jugendamts besuchte sie eines Abends, nachdem Yagmur nicht mehr im Kindergarten erschienen war. Yagmur lag bereits im Bett. „Geht es dir gut?“, fragte die Jugendamtsmitarbeiterin. „Ja“, sagte Yagmur, sie war knapp drei Jahre alt, und winkte ihr zum Abschied. Das war zu einer Zeit, als sie schon schwerst verletzt worden war von ihrer Mutter; die Mitarbeiterin ging nach Hause, ohne sich das Kind weiter anzusehen. Mehr weiß ich nicht über Yagmur.
Vom Zufälligen des Erinnerns
Ich habe bereits vorher über Fürchterliches geschrieben, über Kinder, die durch ihre Eltern den Tod fanden, Kinder, die wochenlang gelitten haben. Es gibt keinen rationalen Grund, warum mich der Prozess um den Tod von Yagmur weiter verfolgt und nicht der um Lea-Sophie, die mutmaßlich verhungerte, und das ist eine der Fragen, die mich umtreibt beim Erinnern: dass es in manchem zufällig scheint, was einen so ergreift, dass man es nicht vergessen kann.
Zu Beginn dachte ich, dass es möglich sein müsste, etwas Konstruktives aus dieser Erschütterung zu schaffen, wobei das Wort konstruktiv eine Krücke ist, es erscheint mir falsch, irgendetwas in Verbindung mit einem solchen Tod konstruktiv zu nennen. Ich glaube, dass es mir auch darum geht, die Bilder aus dem Prozess loszuwerden, Fotos von dem toten Kind, ausgezogen auf dem Boden der Wohnung. Ein kleiner regloser Körper. Und dabei habe ich gar nicht gehört, was die rechtsmedizinischen Zeugen später im Prozess von den Verletzungen berichtet haben. Yagmur wurde totgeschlagen.
Im Versuch also, etwas Hilfreiches zu finden, habe ich ein Gespräch mit einer Kita-Leiterin vereinbart. Es war eine Kita in St. Pauli, kein sogenannter Problemstadtteil, kein Ort, an dem die Erzieherinnen Anlass hätten, nach Verletzungsspuren am Körper der Kinder zu suchen. „Ich weiß nicht, ob ich mir zutrauen würde, eine Kita in Mümmelmannsberg zu leiten“, sagte die Kita-Leiterin. Nach dem zu urteilen, was sie von Kolleginnen von dort höre, sei es eine andere Welt.
Yagmur war kurz in einer Kita in Mümmelmannsberg, das Jugendamt hatte die Eltern dazu verpflichtet, aber nach ein paar Wochen hat die Mutter sie dort herausgenommen. Sie wolle mehr Zeit mit dem Kind verbringen, sagte sie zur Begründung. Den Erzieherinnen war nichts aufgefallen. Yagmur sei ein aufgewecktes Kind gewesen, das sich gut in die Gruppe eingefügt habe. Schwierig zu sagen, ob ihnen etwas hätte auffallen müssen. Die Mutter hatte immer Erklärungen für die blauen Flecken.
Ich habe die Kita-Leiterin in St. Pauli gefragt, ob es sinnvoll sein könnte, Schulungen für die Erzieherinnen anzubieten, um Misshandlungen zu erkennen. Es gebe wohl bereits welche, meinte sie, allerdings nicht verpflichtend. Aber dann sagte sie, dass sie es ohnehin wichtiger fände, an einer anderen Stelle anzusetzen, dass es darum ginge, junge Leute dazu zu befähigen, gute Eltern zu werden. Die Schulungen, meinte sie, seien defizitorientiert, also im Grunde vom Misstrauen gegen die Eltern geprägt.
Es leuchtete mir ein, was sie sagte, wobei mir schien, dass das eine das andere nicht notwendigerweise ausschließt. Ich habe dann noch Klaus Püschel, den Rechtsmediziner am Uniklinikum Eppendorf, besucht, der Yagmur obduziert hat. Sie war zuvor schon einmal in der Rechtsmedizin gewesen, lebend, da hatte eine Kollegin ein Oberbauch- und Hirntrauma bei ihr festgestellt. Püschel hatte daraufhin Anzeige erstattet, aber weil nicht nachweisbar schien, ob die Eltern oder die Pflegemutter für die Verletzungen verantwortlich waren, ging man der Anzeige schließlich nicht weiter nach. Später hatten Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses kritisiert, dass Püschel nicht nachgehakt hat.
Klaus Püschel ist ein viel gefragter Rechtsmediziner, ich schrieb ihm eine Mail mit der für mich selbst vage wirkenden Frage, ob ich mit ihm über mögliche konstruktive Konsequenzen aus dem Wissen um die Misshandlung von Yagmur sprechen könne. Ich war froh und überrascht, als er sofort zusagte.
In seinem Büro türmten sich Akten, an der Wand hingen Bilder von ihm mit lachenden Enkelkindern. Ich habe erst spät bemerkt, dass auf dem Aktenstapel der sich einen Meter hoch neben mir türmte, „Yaya“ stand. Das war der Spitzname von Yagmur, und ich habe mich gefragt, warum die Justiz ihn auf ihre Akten schrieb, ob sie diesem Kind im Prozess etwas Persönliches geben wollte. Als könne der Kosename ein Stück Unbefangenheit setzen gegen die Grausamkeit, über die im Gerichtssaal verhandelt wurde.
In den Zeitungen hatte gestanden, dass Püschel im Untersuchungsausschuss unsicher wirkte, bei meinem Besuch an diesem Nachmittag war davon nichts zu spüren. Mich wunderte, dass er ausführlich erklärte, dass seine Nüchternheit im Umgang mit Kindesmisshandlung auf andere sonderbar wirken könnte – wie sollte er sonst diese Arbeit tun, dachte ich.
Zu Yagmur sagte er zwei Dinge, die mir im Kopf blieben: dass ihr Tod vermeidbar gewesen sei, dass viele die Verletzungen hätten sehen können, wenn sie ihre Arbeit ordentlich gemacht hätten – Jugendamtsmitarbeiter, eine Kinderärztin. Es fehle in Hamburg nicht an Zivilcourage, die Menschen schauten nicht grundsätzlich weg. Püschel sah das Problem an einer ganz anderen Stelle: Er glaubt, dass sich die Jugendamtsmitarbeiter zu stark mit den Eltern identifizierten, sie als Opfer betrachteten und deswegen in Fällen wie dem von Yagmur zu leichtgläubig seien.
Wahrscheinlich lassen sich die Positionen der Kita-Leiterin und die von Klaus Püschel sogar vereinbaren: Eltern zu stärken und zugleich ein Bewusstsein dafür zu haben, dass es schwarze Schafe gibt, denen man nicht trauen kann. Aber ich bin aus diesen Gesprächen eher ratlos gegangen. Was könnte ich tun? Vielleicht endete meine Betroffenheit auch an der Stelle, wo es mühsam und kleinteilig wurde.
Es gibt eine Internetseite, die an Yagmur erinnert, sie ist eine von vielen Gedenkseiten, auf der man eine virtuelle Kerze anzünden und einen Text hinterlassen kann. Es haben sich dort Hunderte eingetragen, es sind vor allem Frauen, manche schreiben davon, dass sie selbst Kinder haben. Sie schreiben direkt an Yagmur: dass sie sie nicht kannten, aber dass sie den Berichten entnommen haben, dass sie ein fröhliches Kind war, trotz des Grauens, das sie erlebt hat. Manche schreiben, dass sie selbst ein Kind verloren haben und dass Yagmur und dieses Kind sich vielleicht im Himmel treffen.
Ich habe sehr spät begriffen, dass man sich erst einmal um seiner selbst willen erinnert. Es ist kein komplexer Gedanke, im Gegenteil, aber ich habe mir nicht klar gemacht, dass Erinnerung, wenn überhaupt, künftigen Generationen helfen kann, weil man in der Erinnerung die Welt schafft, in der man leben möchte. Aber sie kann den Toten nicht mehr helfen, es sei denn, man glaubt, wie die Christen im Mittelalter daran, dass man im Gedenken den toten Seelen den Weg ins Paradies erleichtert. Die Erinnerung kann das Geschehene nicht verändern, es bleibt, wird immer bleiben.
Vielleicht macht man sich dieses Nicht-mehr-helfen-Können nicht bewusst, um in einer Welt, die weitgehend ohne himmlische Erlösung auskommt, weiter an etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit glauben zu können, an eine verknappte Variante des himmlischen Paradieses, wo es den Geschundenen endlich gut geht. Und stellt eine hilflose Gleichung auf wie: Ihr wurde schreckliches Unrecht getan, aber sie wird nicht vergessen.
Wenn man mit Erinnerungsforschern wie dem Historiker Christian Gudehus spricht, dann ist er milde überrascht, dass man überhaupt mit dieser Vorstellung hantiert. „Gerechtigkeit?“, sagt er. „Gerechtigkeit ist nicht Thema des Erinnerns.“ Erinnern, das sei der Konsens der Gegenwart, also auch eine Frage der Machtverhältnisse. Und zudem folge es immer der Frage, was gut zu erzählen sei. Ein Beispiel: dass die Erinnerung an die Widerstandsgruppe der Weißen Rose und an Claus Graf von Stauffenberg so allgegenwärtig sei, die Männer und Frauen der Roten Kapelle aber so gut wie vergessen, liege nicht daran, dass die Weiße Rose und Stauffenberg mehr für den Widerstand getan hätten. Sondern daran, dass die Mitglieder der Weißen Rose schöne junge Studenten waren und dass die Wehrmacht ein Interesse daran hatte, sich mit einem Offizier im Widerstand rein zu waschen.
Täter, die noch leben
Eine Gesellschaft definiert sich auch über das und diejenigen, an die sie erinnert. Wenn sie sich an Opfer erinnert und nicht an Helden, dann bedeutet das aber nicht notwendigerweise ein negatives Selbstbild. Sondern man möchte sich darin als Gemeinschaft erweisen, die sich ihrer Verantwortung und ihrer Schuld stellt. Ich fragte mich, ob es möglich sei, sich gegenwärtiger Opfer zu erinnern, Opfer, bei denen diejenigen, die Schuld oder einen Teil der Schuld tragen, noch leben. Ob es möglich ist, an Opfer wie Yagmur zu erinnern, für deren Tod zuallererst ihre Mutter verantwortlich ist, bei der es aber auch einen schwierig zu benennenden Schuld-Anteil der Öffentlichkeit gibt.
In Hamburg ist im letzten Sommer eine Straße nach einem Opfer der NSU-Morde umbenannt worden. Sie heißt nun nicht mehr Kohlentwiete, sondern Tasköprü-Straße. Auf den Weg gebracht hat es der damalige Bezirksabgeordnete der Grünen in Altona, Yusuf Uzundag. „Ich wollte ein Zeichen setzen“, sagt er und dass es wenig Widerstand dagegen gegeben habe. Eher praktische Einwände, weil die Anwohner und Firmen an der zunächst angedachten Straße die Mühen einer neuen Adresse scheuten und manche den neuen Namen schwierig zu buchstabieren fanden.
Eine Frage des Atems
Straßenbenennungen nach Opfern seien selten, sagt der Sprecher der Hamburger Kulturbehörde. „In der Regel sind es Leute, die etwas für die Allgemeinheit getan haben.“ Der Historiker Gudehus meint, dass es darauf ankomme, ob sich jemand hinter eine solche Erinnerung klemme und wie lange sein Atem reiche. Zufall also, zumindest zu einem gewissen Grad.
Ich habe schließlich beim Grünflächenamt angerufen und gefragt, ob man einen Baum als Erinnerung an Yagmur pflanzen könne. Das wäre nichts, was helfen könnte, Misshandlung künftig zu vermeiden. Aber es wäre zumindest etwas Lebendiges, dachte ich, als Zeichen gegen das Zerstörerische, das sie zu Tode gebracht hat. Der zuständige Beamte war freundlich, aber noch scheint es ungewiss, ob es möglich ist. Es gebe immer mal wieder Anfragen, sagte er, und man müsse abwägen, ob es sich um eine rein persönliche Angelegenheit handele.
Ich wünschte, es gäbe keinen Grund, an Yagmur zu erinnern. Sie wäre einfach ein lebendiges Kind. Sie würde heranwachsen zu einer Frau, sie würde zu einer alten Frau, sie stürbe. Ihre Kinder würden sich an sie erinnern, die Enkel, dann verliefe sich ihre Spur wie die von uns.