: Die unendlich lange Nachkriegszeit
KRIEGSENDE Vor 70 Jahren wurde Berlin vom Hitlerfaschismus befreit. Die Erinnerungen an das Ende des Kriegs sind bis heute lebendig. Doch der Weg in einen neuen Alltag war mühsam und zäh. Zwei Erinnerungen an eine Zeit, in der kein Krieg mehr herrschte – aber auch noch kein Frieden
■ geboren 1930, erlebte den 8. Mai 1945 in Weißensee. Sein Vater war Kommunist, doch Böhm war bald ernüchtert von der Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone. Böhm ging 1948 nach Westberlin. Später arbeitete er in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung.
TEXT UWE RADA FOTOS LIA DARJES
„Ich habe der Befreiung entgegengefiebert.“ Margit Siebner, geborene Cohn, ist 16 Jahre alt, als der Faschismus kollabiert. Die letzten Kriegsjahre, den Bombenhagel, die Durchhalteparolen und Drohungen hat sie in einem Versteck in Kreuzberg erlebt. Margit Siebners Vater Fritz Cohn war Buchhändler, Spittelmarkt, gute Lage, florierendes Geschäft. Bis 1936. „Da haben sie ihm seinen Buchladen weggenommen, weil er Jude war.“ Margit Siebner macht eine Pause. „Ich muss das erzählen“, sagt sie. „Das ist die Vorgeschichte, ohne die man nicht verstehen kann, wie ich mich im Mai 1945 fühlte.“
Also fährt sie fort. „Als einer der Ersten ist mein Vater 1937 in Buchenwald ins Konzentrationslager gekommen. Er hatte unerlaubt mit den Büchern gehandelt, die noch im Keller lagen. Marx und Engels.“ Zwar wurde er 1939 wieder entlassen und kurz darauf gelang ihm mit einem Schiff die Flucht nach Schanghai. Margit lebte nun alleine mit ihrer nichtjüdischen Mutter. Doch die Angst war geblieben. „Der Blockwart in unserem Haus am Spittelmarkt hat mir den Zugang zum Luftschutzkeller mit den Worten verwehrt: Die Judengöre soll verrecken.“
Deshalb hat die Mutter Margit in Sicherheit gebracht. Zu einem anderen Nazi, einem mit einer jüdischen Geliebten. In Kreuzberg verwaltete er die Firma der Geliebten, eine Leimfabrik, Stallschreiberstraße, kriegswichtige Produktion. Und er besorgte jüdischen Kindern neue Pässe, beschäftigte sie in der Fabrik. So verbrachte Margit Siebner zwei Jahre in Kreuzberg. Die Befreiung aber, der sie so entgegenfieberte, erlebte sie in Neukölln. „Nach den schweren Bombenangriffen im Februar 1945 brachte mich meine Mutter zu meinem arischen Großvater, wie sie sagte, in Neukölln. Das war meine Rettung“, erinnert sich Margit Siebner. „Beim nächsten Bombenangriff wurde genau die Firma getroffen, in der ich mich so lange verstecken konnte.“ Der Nazi und seine jüdische Geliebte, meint Margit Siebner, gehörten bis heute zu den unbekannten Helden von Berlin.
Siebzig Jahre später sitzt Margit Siebner in ihrem Reihenhaus in Lichtenrade und legt die wenigen Fotos auf den weißgedeckten Tisch, die ihr geblieben sind. Es sind zwei Bilder von ihrem Vater. Das eine datiert von 1932: Glückliche Zeit, die Tochter an der Hand des Vaters, er trägt Anzug und Strohhut, ein stattlicher Mann. Das zweite Foto ist in Schanghai aufgenommen. Es zeigt Fritz Cohn neben einer rollenden Leihbibliothek. Aus dem stattlichen Buchhändler vom Spittelmarkt ist ein fahrender Händler geworden. „Er war seit Buchenwald ein gebrochener Mann“, sagt Margit Siebner und legt die Fotos beiseite. Aufnahmen aus den Monaten nach der Befreiung hat sie keine. Das Erinnern an den Neuanfang folgt einem anderen Rhythmus als das Erinnern an eine Zeit, deren Ende die einen herbeigesehnt haben und die anderen zum Strick greifen ließen.
Ein warmer Wonnemonat
Der achte Mai 1945 war in Berlin ein warmer Tag, laut Wetteraufzeichnung war der gesamte Monat 1,8 Grad wärmer als das Mittel – die angebliche Stunde null begann mit einem wahren Wonnemonat. Und mit ideologischen Aufräumarbeiten. In Treptow, so berichtet die Berliner Chronik, mussten alle von den Nazis umbenannten Straßen ihren alten Namen zurückbekommen. Am 11. Mai hielt der Rabbiner Martin Riesenberger den ersten Freitagsgottesdienst nach Kriegsende in der Kapelle des Jüdischen Friedhofs in Weißensee. Unter dem 14. Mai vermeldet die Chronik: „Sechs Lichtspieltheater des Bezirks Prenzlauer Berg zeigen wieder Kinoprogramme. Zur Aufführung gelangten zunächst nur unsynchronisierte sowjetische Filme.“
An all das erinnert sich Günter Böhm nicht. Auch für den damals vierzehn Jahre alten Schüler war das Ende des Krieges das alles entscheidende Datum. Böhm erlebte die Befreiung in Berlin-Weißensee. „Mein Vater hat am großen Volksempfänger immer den Londoner Rundfunk gehört, wir wussten Bescheid über den Kriegsverlauf“, erinnert er sich. „Von der Niederlage in Stalingrad erfuhren wir drei Tage, bevor sie bei uns bekannt gemacht wurde.“ Doch für den Vormarsch der Roten Armee brauchte es keinen „Feindsender“ mehr, meint Böhm. „Das haben wir am Geschützdonner und später dann am Dröhnen der Panzerketten gehört.“
Am 16. April 1945 hatte die Rote Armee mit dem Großangriff auf Berlin, die Reichshauptstadt, begonnen. Nach der verlustreichen Schlacht an den Seelower Höhen überquerten die Rotarmisten am 21. April die nordöstliche Stadtgrenze zwischen Blankenfelde und Mahlsdorf. Vier Tage später war Berlin eingekesselt. Wenig später kommt der Moment, den Günter Böhm herbeisehnt, aber auch fürchtet. „Wir saßen im Luftschutzkeller, als die Tür aufging: die Russen. Wir fragten uns alle, wie sie sich benehmen würden? So, wie es Goebbels und seine Propaganda immer wieder behaupteten? Oder ganz im Gegenteil – als Befreier?“
Günter Böhm atmet auf. Niemandem passiert etwas im Keller. Allerdings ist auch noch Krieg. Den Stadtteil Weißensee erreicht die Rote Armee bereits Ende April. „Die Soldaten mussten noch kämpfen.“
In Berlin, vor dem Krieg mit 4,3 Millionen Einwohnern einst die drittgrößte Stadt der Welt, erlebten 2,8 Millionen Menschen das Ende des Krieges – und die Wochen danach die erste Beseitigung der Trümmer, den Aufbau der Verwaltung durch die Sowjets, die Selbstmorde, wie den des Blockwarts vom Spittelmarkt, der Margit Cohn als Judengöre bezeichnete.
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■ 9. Mai 1945: Die Zerstörungen der Verkehrsanlagen sind verheerend. 1.118 S-Bahn-Wagen waren beschädigt, 420 Straßenbahnwagen total zerstört, von 900 Bussen nur noch 18 fahrtüchtig.
■ 10. Mai 1945: Der Bezirksbürgermeister von Treptow weist an, durch die Nazis umbenannte Straßen auf ihre Namen vor 1933 rückzubenennen. Es sollten unpolitische Namen gewählt werden.
■ 13. Mai 1945: KPD-Funktionäre aus allen Stadtbezirken treffen sich mit Walter Ulbricht.
■ Die vom Stadtkommandanten Bersarin ausgewählten Kandidaten für den Magistrat werden durch den Oberbefehlshaber der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), Marschall Schukow, bestätigt.
■ Mit einer Linie in Zehlendorf nehmen die Berliner Verkehrs-Betriebe (BVG) den Omnibusverkehr nach dem Kriege wieder auf.
■ 14. Mai 1945: Sechs Lichtspieltheater des Bezirks Prenzlauer Berg zeigen wieder Filme.
■ Die erste U-Bahn-Linie nach dem Krieg wird in Neukölln zwischen Hermannplatz und Leinestraße wieder in Betrieb genommen.
■ 15. Mai 1945: Ein Befehl des Stadtkommandanten Nikolai Bersarin erlaubt der Bevölkerung, sich fortan von 5 bis 22.30 Uhr frei in der Stadt zu bewegen.
■ 19. Mai 1945: Der sowjetische Stadtkommandant Nikolai Bersarin führt im Neuen Stadthaus in der Parochialstraße 1–3 (Mitte) den Magistrat von Groß-Berlin als Gesamtberliner Verwaltung offiziell in sein Amt ein. Dieser Magistrat arbeitete bis zum 5. 12. 1946.
■ 20. Mai 1945: Laut Befehl des Stadtkommandanten Bersarin ist „bis zu besonderen Anweisungen in der Stadt Berlin nach Moskauer Zeit zu arbeiten“. Die Uhren wurden um zwei Stunden vorgestellt.
■ Im Stadion Lichtenberg findet vor 10.000 Zuschauern das erste Fußballspiel nach dem Krieg statt.
■ 21. Mai 1945: Die ersten Exemplare der zunächst von der Roten Armee herausgegebenen Berliner Zeitung werden ausgeliefert.
■ 30. Mai 1945: In 11 der 21 Bezirke wird die Stromversorgung wieder aufgenommen.
■ 31. Mai 1945: Der neue Magistrat löst auf Weisung der sowjetischen Besatzungsmacht alle alten Beamtenverhältnisse auf.
■ 1. Juni 1945: Die Deutsche Volkspolizei nimmt ihren Dienst auf. Die Polizisten trugen grüne Uniformen und Armbinden mit der deutschen und russischen Aufschrift „Deutsche Volkspolizei“.
■ 12. Juni 1945: Im Stadthaus am Molkenmarkt (Mitte) veranstaltet die KPD als erste Partei nach dem Krieg eine politische Versammlung, auf der Ulbricht das Aktionsprogramm seiner Partei erläutert.
■ 15. Juni 1945: Nach Erlass des Befehls Nr. 2 durch die SMAD, der die Gründung „antifaschistisch-demokratischer Parteien“ zuließ, bildet sich als vorläufige Parteileitung der SPD ein Zentralausschuss. Die erste SPD-Nachkriegsversammlung fand am 17. Juni statt.
■ 27. Juni 1945: Mit dem ersten Expresszug Moskau–Berlin, der auf dem Schlesischen Bahnhof (Ostbahnhof) eintrifft, wird der durchgehende Verkehr zwischen beiden Städten wieder aufgenommen.
■ 16. Juni 1945: Stadtkommandant Bersarin verunglückt tödlich bei einem Motorradunfall.
■ 25. Juni 1945: Im Filmtheater Colosseum in der Schönhauser Allee findet die erste Funktionärskonferenz der KPD Groß-Berlin statt.
■ 30. Juni 1945: Der Magistrat ordnet auf Befehl der SMAD an, alle ehemaligen Mitglieder der NSDAP binnen drei Tagen aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen.
■ 1. Juli 1945: Während die Westmächte beginnen, ihre Truppen aus Sachsen und Thüringen hinter die auf der Konferenz von Jalta vereinbarte Demarkationslinie zurückzuziehen, treffen die ersten amerikanischen Verbände an der Berliner Stadtgrenze ein.
Entnommen www.luise-berlin.de
Für Günter Böhm waren die Wochen danach ein Auf und Ab der Gefühle. „Ganz schnell fuhren wieder die Straßenbahnen und die S-Bahn. Was aber noch lange nicht funktionierte, war die Wasserversorgung. Da mussten wir mit einem Eimer zur Pumpe laufen.“
Auch die Soldateska hat Böhm erlebt. „Das begann nach der Kapitulation. Die Rotarmisten kamen in alle Wohnungen mit erhobenen Gewehren. Sie haben nach Waffen und Wertgegenständen gesucht. Viele Soldaten waren betrunken, haben vergewaltigt.“ Auch Böhm fühlt sich nicht sicher. „Einmal dachte ich: Jetzt erschießen sie mich.“
Doch dann lässt die Angst nach. „Noch bevor die Westalliierten am 1. Juli Berlin erreichten, hatte der sowjetische Stadtkommandant die Plünderungen verboten, die Offiziere sind gegen Vergewaltiger eingeschritten. Ich habe selbst gesehen, wie die NKWD-Leute einem betrunkenen Soldaten einen Fußtritt verpassten. Die haben dann hart durchgegriffen.“
Plötzlich keine Nazis mehr
Die Angst ging, der Alltag kam. Eine Zwischenzeit, nicht mehr Krieg, noch nicht Frieden. Nicht mit den Siegern. Und auch nicht mit den Nachbarn. Zumindest bei Margit Cohn: „Gleich nach Kriegsende hat meine Mutter in Neukölln ein Ladengeschäft aufgemacht und einen Tauschring organisiert. Eines Tages kam ein Mieter aus unserem Haus und hat sie angemacht, was sie sich erdreistet. Der war immer noch Nazi. Und meine Mutter immer noch die Frau eines Juden.“
Einen anderen Nazi aber haben die Cohn-Frauen entlastet. „Mein Vater ist aus Buchenwald 1939 nur unter der Voraussetzung entlassen worden, dass sich meine Mutter von ihm scheiden lässt. Den Hinweis hat ein NSDAP-Mann gegeben, der ein Auge auf meine Mutter geworfen hatte. Er hat dann Wort gehalten und mit seinen Verbindungen zu seinen Leuten dafür gesorgt, dass mein Vater freikam.“
Und noch einen Nazi haben Margit Cohn und ihre Mutter entnazifiziert. Es war der Mann, der für seine jüdische Geliebte die Leimfabrik in der Stallschreiberstraße verwaltete. „Der hat mir nach dem Krieg geschrieben, wie sehr er sich freue, dass ich überlebt habe. Bei den Alliierten haben wir dann ausgesagt, dass er mich gerettet hat.“
Doch die negativen Erinnerungen überwiegen bei Margit Siebner in diesen ersten Wochen und Monaten nach dem Schweigen der Waffen. „Ein Nachbar hat ganz beiläufig gesagt: Ach, dich gibt es noch? Auf der anderen Seite wollten alle nichts mehr mit Hitler zu tun gehabt haben. Plötzlich gab es keine Nazis mehr in der Stadt.“
An ihren großen Traum, wie ihr Vater mit Büchern zu arbeiten, kann Margit vorerst nicht denken. „Wir mussten Essen organisieren, und das ging manchmal nur über den schwarzen Markt am Potsdamer Platz. Das war zwar verboten. Aber es gab keine Alternative. Manchmal bin ich zum Hamstern gefahren. Da habe ich unser Fahrrad und Teppiche gegen Kartoffeln getauscht.“
■ Die zentrale Ausstellung im Deutschen Historischen Museum beschränkt sich nicht auf den 8. Mai 1945 in Deutschland und Berlin. Unter dem Titel „Niederlage. Befreiung. Neuanfang“ werden zwölf europäische Länder miteinander verglichen – dabei sind 36 ausgewählte Biografien in den Mittelpunkt gerückt. Die Ausstellung ist noch bis zum 25. Oktober zu sehen.
■ Das Abgeordnetenhaus gedenkt bereits am 2. Mai der Befreiung. Dabei werden Schüler Zeitzeugenberichte vortragen. Der RBB überträgt die Feier am heutigen Samstag ab 11 Uhr live.
■ Die landeseigene Kulturprojekte GmbH hat eine Open-Air-Schau mit dem Titel „Mai 45 – Frühling in Berlin“ auf die Beine gestellt. Thematisiert wird der Alltag zwischen Krieg und Frieden. Am Brandenburger Tor, Lustgarten, Alexanderplatz, Potsdamer Platz, Joachimsthaler Platz und Wittenbergplatz zeigen großformatige historische Fotos eben diese Plätze im Frühling 1945. Dazu gibt es Führungen und Audiowalks. (wera)
Tauschen und Hamstern
Auch Günter Böhm erinnert sich an den Schwarzmarkt am Potsdamer Platz. „Im Sommer 1945 wollte meine Schwester heiraten. Das musste natürlich gefeiert werden. Doch woher nehmen und nicht stehlen? Also bin ich zum Potsdamer Platz.“ Eine andere Schwarzmarkttour ging allerdings gründlich daneben, erinnert sich Böhm bis heute. „Die Ost-West-Tram, die es damals noch gab, wurde am Potsdamer Platz unterbrochen, das war ja die Sektorengrenze.“
Böhm selbst lief eines Tages mit seinem Tauschgut einer Streife in die Hände. „In der Ruine von Wertheim gab es ein Kellerloch. Dort hatten sich Ostberliner Zöllner versteckt und mich reingeholt. Ich wurde verhört. Erst als ich denen gesagt habe, dass mein Vater gerade gestorben war, haben sie mich laufen lassen.“
Während in den Westsektoren die Alliierten ihre Verwaltung aufbauten und die Lkw mit ihren Lautsprechern die Rias-Nachrichten unter die Leute brachten, freundete sich die Familie Böhm mit den neuen Machthabern im Osten an. „Mein Vater war schon vor dem Krieg in der KPD gewesen. Das habe ich erst nach der Kapitulation erfahren. Ich sollte es vorher nicht wissen, damit ich ihn nicht in Gefahr bringe.“ Während der Vater nach der Zwangsvereinigung in die SED aufgenommen wird, verlässt Günter Böhm das Realgymnasium in der Parkstraße und beginnt eine Lehre als Dienstanwärter im Weißenseer Rathaus. „Bei den ersten Wahlen 1946 wurde ich Wahlhelfer – und habe mitbekommen, wie sich so mancher über die Klatsche geärgert hat, die die SED bekommen hatte.“
Das geteilte Berlin beginnt sich wirtschaftlich auseinanderzuentwickeln. In Ostberlin stehen die Weichen auf Kommunismus, und Günter Böhm fühlt sich bedroht. „Im Westen hatten die Leute weniger Angst. Bei uns gab es dagegen immer noch willkürliche Verhaftungen.“ 1948 zieht Böhm die Konsequenzen. „Nahezu unser ganzer Jahrgang an der Verwaltungsschule ging in den Westsektor.“ Dort hat Böhm die Berlinblockade und die Luftbrücke erlebt. Und die endgültige Teilung der Stadt nach Gründung der DDR und der Bundesrepublik und schließlich den Bau der Mauer 1961. In Westberlin hatte Böhm seine Ausbildung beendet und war bis zu seiner Pensionierung Beamter in der Senatsbauverwaltung.
Margit Siebner holt noch einmal das Bild ihres Vaters mit dem rollenden Bücherwagen hervor. Anders als in den berühmten Romanen der Nachkriegszeit kam ihr Vater nicht nach Hause. Kein Rückkehrer, der sich nicht zurechtfindet oder einen anderen an seiner statt vorfindet. Margit Cohns Vater konnte nicht zurückkehren. „1946 erfuhr ich, dass er in Schanghai gestorben war. Lungentuberkulose. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.“
Und dann war da noch das Problem mit der Schule. „Weil ich als Mädchen so lange versteckt war, hatte ich keine Schulpapiere. Für die Einschulung nach dem Krieg aber waren solche Papiere nötig.“ Fast schien es, als würde Margit Cohn nach dem Krieg gar nicht mehr existent sein, ein zweites Mal mit Verachtung gestraft werden. Doch sie ließ sich nicht unterkriegen. „Ich bin zum Magistrat, da hab ich dann eine Prüfung machen müssen und endlich die Papiere bekommen. Man kann sich das heute kaum mehr vorstellen, wie langsam das damals alles ging.“
■ geboren 1928, hat den 8. Mai 1945 in Neukölln erlebt. Zuvor war die Tochter eines jüdischen Buchhändlers in Kreuzberg versteckt worden. Nach dem Krieg holte sie ihr Abitur nach und absolvierte eine Lehre als Bibliothekarin. Später studierte sie Psychologie und arbeitete als Therapeutin. An ihren Vater Fritz Cohn erinnert ein Stolperstein in der Seydelstraße.
Doch das Schulleben war kein Honigschlecken für die 17-Jährige. Das Abitur konnte sie erst 1947 ablegen, an der Silbermannschule, einer Abendschule für Berufstätige. „Da fing der Unterricht erst um 18 Uhr an“, erinnert sich Siebner. „Vor allem waren dort viele Schüler, die verfolgt waren.“ An der Abendschule lernte sie auch ihren späteren Ehemann kennen. „Er hatte eine polnische Großmutter und war Flüchtling.“ Aus Margit Cohn wurde Margit Siebner.
Doch die Erfüllung des Traums, Bibliothekarin zu werden und damit ein Büchermensch wie ihr Vater, ließ auf sich warten. „Mein Mann hat bei der CDU Karriere als Politiker gemacht, später war er sogar Büroleiter bei Richard von Weizsäcker. Er hat aber gesagt: Sobald es geht, bist du dran.“
Margit Siebner bekam fünf Kinder. Doch ihr Mann hat Wort gehalten. Im Jahr 1949 war sie zum ersten Mal „dran“, begann ihre Ausbildung zur Bibliothekarin, arbeitete in der Amerika-Gedenkbibliothek. Als sie sich nach einigen Jahre noch einmal verändern wollte, begann sie an der Freien Universität mit einem Psychologiestudium. Bis heute arbeitet sie in ihrem Haus in Lichtenrade als freiberufliche Psychotherapeutin.
Wenn Margit Siebner an den 8. Mai 1945 zurückdenkt, hat sie vor allem ein Wort auf den Lippen: endlich. Ein Moment, der alles veränderte, auch wenn sich die Zeit danach schier ins Unendliche dehnte für die 16-Jährige.
Der damals 14-jährige Günter Böhm sagt: „Für einen Jungen wie mich war es auch eine spannende Zeit.“
■ Margit Siebner und Günter Böhm arbeiten ehrenamtlich für die Zeitzeugenbörse