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Die Kunst des Elfmeterschießens

FC BAYERN-RATGEBER Strafstöße kann man üben. Positives Denken und Wahrscheinlichkeitsrechnung helfen dabei

Elfer

■ Geschichte: Im Jahre 1890 reichte William McCrum beim Irischen Fußballverband (Ifa) eine Anregung zu einem „Strafstoß“ ein. Zwölf Monate später wurde der Antrag vom International Football Association Board (Ifab) bestätigt und in die offiziellen Regeln aufgenommen.

■ Ausnahmeregelung: Auf den windigen Faröer-Inseln darf neben dem Schützen und dem Torhüter ein dritter Spieler hinzutreten und den Ball festhalten.

■ Sicherste Schützen: In der Bundesliga ist Hans-Joachim Abel (Fortuna Düsseldorf, VfL Bochum) der bislang nervenstärkste Profi. Er trat 16-mal an und traf stets. Otto Rehhagel (12) und Mehmet Scholl (11) verfehlten ebenfalls nie das Ziel.

VON MORITZ FÖRSTER

Elfmeterschießen kann man nicht trainieren. Wenn ein Spiel vom Punkt aus entschieden wird, dann kann nur noch der Glücklichere gewinnen. Ein Gemeinplatz, den jeder Fußballkonsument immer wieder zu hören bekommt. Das Problem beim Elfmeter ist schließlich nicht die Technik. Ball hinlegen, anlaufen, schießen. Das können Kicker in der Landesliga ebenso, wenn vielleicht auch weniger fest und präzise. Stressbewältigung ist das eigentliche Problem: Ein Ball, ein Tor und auf der Linie der Torwart. Zigtausende im Stadion gucken zu, aber der Schütze ist trotzdem ganz allein. Zwischen „Depp der Nation“ und „Held für die Ewigkeit“ liegt ein einziger Schuss. Und diesen mentalen Druck, so predigt es der Volksmund und so predigten es jahrelang die großen Trainer, kann man im Training schlichtweg nicht simulieren.

Sebastian Kehl allerdings, der dienstälteste Profi von Borussia Dortmund, ätzte dieser Tage nach dem DFB-Pokalhalbfinale, bei dem sich der FC Bayern München im Elfmeterschießen wenig standhaft präsentierte: „Wenn sie kein Elfmeterschießen können, dann sollen sie es üben.“ Nach den Schlitterelfern von Philipp Lahm und Xabi Alonso mutete dieses Statement wie eine gemeine Provokation, ein böses Nachtreten an. Dass Elfmeterschießen aber keine reine Glückssache ist, behaupten auch nüchterne Analysten. Ben Lyttleton etwa, Journalist und Berater für Fußballdaten, räumt in seinem Buch „Elfmeter. Die Kunst des perfekten Strafstoßes“, das im April in Deutschland erschienen ist, mit diesem Vorurteil auf und erklärt, wieso Elfmeterschützen erfolgreich sind.

Elfmeterschießen ist so eine Art „Schnick-Schack-Schnuck“ in der Endlosschleife: Im professionellen Fußball kennen Torwart und Schütze die jeweilige Lieblingsecke desjenigen gegenüber: Er weiß, dass ich weiß … Jens Lehmann anno 2006 lässt grüßen. Was nun? Empirisch betrachtet gibt es einige Fußballnationen, die sich als deutlich abgebrühter erweisen. Gegen die Niederlande tauchen die gegnerischen Torhüter im Elfmeterschießen bei etwa zwei von drei Versuchen in die richtige Ecke, gegen England fliegen sie in 58 Prozent der Elfmeter in die richtige Richtung, gegen Deutschland nur in 46 Prozent. Erahnt der Torwart die richtige Ecke, steigen seine Chancen, den Ball zu halten, um 30 Prozent.

Lustigerweise haben Schützen die besten Erfolgsaussichten, wenn sie einfach geradeaus in die Mitte schießen. In 94 Prozent der Fälle tauchen Torhüter in eine der beiden Ecken ab. So lautet das Ergebnis einer Studie, in der ein israelisches Forscherteam im Jahr 2007 rund 286 Elfmeter analysierte. Und das wohlgemerkt, obwohl die Schützen in fast 30 Prozent in die Mitte schießen. Aber auch Torhüter sind nur Menschen. Und Menschen schämen sich, wenn sie nicht einmal den Eindruck erweckt haben, etwas gegen das drohende Unheil zu unternehmen. Der teilweise noch von solchen Emotionen gesteuerte Entscheidungsfindungsprozess im Elfmeter-Schnick-Schnack-Schnuck wird seit einigen Jahren professionalisiert. Es geht schließlich um Titel und Millionen. Spezialisierte Agenturen und Torwarttrainer analysieren inzwischen die Daten von Torhütern und wichtigen Elfmeterschützen, um Schemata in deren Verhalten zu erkennen. Wohin schießt der Schütze, wenn er den Elfmeter zuvor links verschossen hat? Wohin fliegt der Torwart, wenn er zuvor rechts gehalten hat? Ben Lyttleton macht aus einem Elfmeterschuss eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, nicht mit „Stein, Schere, Papier“, sondern mit den drei Variablen „rechts“, „Mitte“, „links“. Der Elfmeter mutiert in einen Erwartungswert.

Petr Cech, der im Elfmeterschießen im Champions-League-Finale 2012 mit seinem FC Chelsea gegen Bayern München jedes Mal in die richtige Ecke abtauchte, hatte sich vor dem Spiel eine zweistündige DVD mit allen Bayern-Elfmetern seit 2007 angeschaut. Sein peripheres Sehen trainiert Cech an einem großen Bildschirm mit 500 Blinklichtern. Damit steigerte er seine Reaktionszeit – es geht darum, so schnell wie möglich auf das blinkende Feld zu hauen – um 26 Prozent. Eine Viertelsekunde benötigt er noch. Dieses unbewusste Antizipieren hilft ihm auch, wenn der Schütze im letzten Moment seinen Fuß abknickt.

Das wohl wichtigste Ergebnis von Lyttletons Reise durch die Geschichte des Elfmeters ist aber der aus der Psychologie bekannte „rosa Elefant“: Schützen treffen häufiger, wenn sie glauben, dass sie treffen. Vor allem aber verschießen sie häufiger, wenn sie vor dem Versagen Angst haben. Bestes Beispiel sind die traumatisierten Engländer, die seit 1990 bei Welt- oder Europameisterschaften gleich sechsmal im Elfmeterschießen gescheitert sind. Dabei haben sie eigentlich gute Schützen, wie ein Vergleich von rund 4.000 Elfmetern ergab: Während in der Premier League 82 Prozent der Elfmeter im Tor landen, sind es in der Bundesliga lediglich 76 Prozent. Kommt es im Nationaltrikot allerdings zum Elfmeterschießen, treffen englische Spieler nur noch 66 Prozent der Elfmeter, deutsche dagegen 93 Prozent!

Durch den medial aufgeblasenen Ballast der Geschichte wird aus einem Elfmetermythos so ein realer Teufelskreis. Der norwegische Sportpsychologe Geir Jordet untersucht die englische Elfmeter-Paranoia seit einigen Jahren. Englische Elfmeterschützen verhalten sich ängstlich. Sie vermeiden es, dem Torhüter in die Augen zu gucken. Und kaum, dass der Schiedsrichter den Schuss mit einem Pfiff freigegeben hat, rennen sie auch schon los. Deutsche Elfmeterschützen lassen sich mehr als doppelt so viel Zeit, Franzosen gut dreimal so viel.

Hat eine Mannschaft die vergangenen beiden Elfmeterschießen verloren, trifft der einzelne Schütze im folgenden Elfmeterschießen in 57 Prozent der Fälle. 89 Prozent ist dagegen die Erfolgsquote für einen einzelnen Schützen, dessen Team die vergangenen beiden Elfmeterschießen gewonnen hat. Zudem gewinnt die Mannschaft, die während des Spiels noch den Ausgleich erzielt hat, drei von fünf Elfmeterschießen. Ein Erfolgserlebnis beflügelt, Schock lähmt. Sogar die Reihenfolge, in der geschossen wird, beeinflusst den Ausgang. Menschen sind besser, wenn sie auf einen Erfolg hinarbeiten, als wenn sie Misserfolg abwenden müssen. Das bedeutet: Wer beim Elfmeterschießen beginnt, gewinnt in 60 Prozent der Fälle.

Bleibt die alles entscheidende Frage für die englische Fußballnation, wie sie die Luft aus einem rosa Elfmeter-Elefanten lassen kann, der sich im Repeat-Modus wie von allein überdimensioniert aufgeblasen hat. Lyttleton, der sozusagen die reale Auswirkung einer Illusion beschreibt, hat dafür einige Ratschläge parat: Beispielsweise die Statistiken der gegnerischen Torhüter und Schützen studieren, positiven Teamzusammenhalt auch für den Fall eines Fehlschusses einüben oder Elfmeter so realitätsnah wie möglich trainieren. Er ist im Gegensatz zu den meisten davon überzeugt, dass das möglich ist. Durch seine statistische Datenbrille betrachtet, erscheinen Elfmeter nicht mehr wie eine Frage von Glück und Pech. Die gute Nachricht für den englischen Fußball: Wenn man einmal gewonnen hat, stehen die Chancen für das nächste Elfmeterschießen gleich viel, viel besser. Zumindest empirisch.

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