ausgehen und rumstehen : Dresscode: slick. Unter George-Grosz-Strebern in der Bar namens 1000
Am 7. Mai 2008 ist mir leider nicht Lotte Lenya erschienen, nicht einmal Caterina Valente mit Kurt Edelhagen. Dabei hatte ich extra Pomade in die Haare geschmiert. Und bin ins 1000 gegangen, die Bar mit dem hochdekorierten Mixmeister und den tief dekolletierten Nischendamen. Die Bar mit dem Dresscode „slick“ und dem Musikprogramm zwischen blütenweißem Jazz mit Blume im Knopfloch und blütenweißem Jazz mit Pfropf in der Trompete.
Hier, nur 100 Meter entfernt vom Admiralspalast, in dem fast auf den Tag genau vor 83 Jahren das Sam Wooding Orchestra mit afroamerikanischem Swing aus den USA die Weimarer Republik in die Roaring Twenties katapultierte, sollten Clara Hill’s Folkwaves spielen. Clara Hill ist die Souljazzsängerin des Berliner Labels Sonar Kollektiv, die eine betörend rauchige Erzählstimme und eine handwerklich akkurate Singstimme hat. In der silbrigen Turbine des 1000 mit seinem Art-déco-Retrolook macht Anecken sowieso keinerlei Sinn, da sollte sich Clara Hill perfekt einfügen.
Um die goldenen Zeiten von Sam Wooding und Kurt Edelhagen zu erwecken, tragen die Barkeeper schwarze Hemden und schwarze Stoffhosen. No Jeans. Und auch für die Gäste gilt: no Jeans. Slick eben. Slick heißt: Anzug.
Das ist gut für das männliche Publikum, das hierherkommt. Denn mit feineren Distinktionsmerkmalen als Anzug/kein Anzug ist es sowieso überfordert. Ins 1000 verabreden sich Männer, die im Freizeitlook so aussehen, als wären sie die Autowaschmannschaft für die BMWs, die ihnen gehören. Aber im Anzug halten sie sich für Alphamännchen. Sie tragen ihre Jacketts wie Al Capone und die Anzughosen wie John Wayne, glauben, sie wären Adriano Celentano, haben aber außer der Stirnglatze nichts mit ihm gemein.
Hierher kommen Streber, die panische Angst vor zu süßlichem Herrenparfüm haben und ihre weibliche Begleitung zum Tanzen schicken, während sie ihr einen Manhattan ordern (bitte mit einem Extraschuss Alkohol, zwinker, zwinker, sie verstehen schon?) – und für sich selbst einen Whiskey auf Zigarre. Und hierher kommen Frauen, die beim Tanzen nur daran denken, dass die Männer ihnen übers Whiskeyglas zugucken.
Als die Folkwaves-Band etwas die Zügel schießen lässt und zu rocken beginnt, fallen den russischen Nutten entrüstet die falschen Wimpern ins falsche Dekolleté. Das sind gar keine Nutten? Das sind Kolleginnen? Dann möchte ich mal wissen, was für eine Firmenkultur eigentlich in Deutschland herrscht, grummle ich in mein 4-Euro-Bier, für das es gerade noch gereicht hat. Die 20er-Jahre befreiten sich mit Verve von Rollenklischees. Frauen im Anzug demonstrierten das stolz. Männer im Anzug sind in der 20er-Wiederauflage der Bar 1000 die Verhöhnung dieser Befreiung. „Import/Export“ heißt die Bar auch längst im Szenevolksmund.
Als die Band sich wieder zurücknimmt, Clara eine rauchige Ansage durchs Mikro schmeichelt, die Männer die falschen Wimpern aus den Dekolletés ihrer Begleitungen gefischt haben, ist im „Import/Export“ wieder alles am richtigen Platz. Vielleicht, denke ich, vielleicht hätte das Konzert die Caterina-Valente-Größe bekommen, wenn Clara mit Till Brönner aufgetreten wäre.
So aber sind mir am 7. Mai 2008 nur George-Grosz-Fratzen erschienen. Berlin ist Großstadt, heißt das wohl. Und beim Rausgehen schäme ich mich bis in meinen Pomadenacken, dass ich Grosz mein gesamtes Kunstgeschichtsstudium über als einen moralisierenden Krakeeler und plakativen Karikaturisten abgetan habe. Der Mann hat schlicht und einfach recht – und ich habe an einem Abend mehr über Kunst gelernt als in zehn Jahren Studium.
Dank dafür ans 1000. Und denken Sie daran, wenn Sie sich unter dem Spiegelgewölbe des 1000 auf die Spuren der pervertierten Roaring Twenties machen, unbedingt einen Erdbeer-Mojito zu bestellen. Der ist köstlich. JAN JOSWIG