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Archiv-Artikel

Unscheinbare Klangräume

Das Kammerensemble Neue Musik widmete sich in einer 13-teiligen Konzertreihe flüchtigen Provisorien zeitgenössischer Musik. In privatem Ambiente wurden Alltagsklänge neu verortet

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Vielleicht wurde unseren Betten, Esstischen und Wohnzimmern als Orten der ästhetischen Praxis bislang noch nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit eingeräumt. Wie haben Sie geschlafen? Schlecht, knarzt das Cello. Was haben Sie gefrühstückt? Ein Honigbrötchen, schmatzt die Klarinette. Sieben Tage lang haben Musiker Tagebuch geführt und die Parameter ihres Lebens schriftlich festgehalten: schlafen, arbeiten, essen. „Schlafen, arbeiten, essen“ heißt auch das Konzert mit Musik des holländischen Komponisten William Engelen, der diese Tagebücher, ein wenig schematisch vielleicht, aber plastisch und gut nachvollziehbar, in Musik übersetzt hat.

Aufgeführt wurde Engelens Musik jetzt in einer kleinen Wohnung in der Kollwitzstraße, in die sich das Publikum drängt und zwängt und an den schönen Möbeln stößt. Aber gerade dieses private Ambiente verleiht der Musik einen Zug ins Alltägliche und Profane. Avantgarde goes Kleinkunst.

Die Veranstaltung ist Teil des vom Kammerensemble Neue Musik initiierten Konzertabends „HouseMusik. Musik für Wohnungen, Büros und andere Orte“, einer 13-teiligen Reihe von Konzertminiaturen, die einen in diesem Jahr zu entlegenen und unscheinbaren Auftrittsorten rund um den Kollwitzplatz führten. Im Ingenieurbüro Heene etwa gedenken drei Streichinstrumente mit lang ausgehaltenen Tönen des amerikanischen Komponisten James Tenney. Im Theater o. N./Zinnober versehen dann drei Holzbläser das Video eines wühlenden Madenteppichs mit Klang. Das alles hat, vor allem infolge der beengten Räumlichkeiten und des kleinen Publikums, etwas Provisorisches, Vorläufiges. Das Pathos der großen, zum Raunen angetanen Kunst verflüchtigt sich dabei. Was bleibt, sind Augenblicke, Intimitäten und die Kunst der Miniatur.

Stefan Streich trieb dieses Konzept auf die Spitze. Das Publikum seiner „Lokalmetamorphose“ sitzt hinter dem Schaufenster einer Galerie und blickt hinaus auf die samstagabendliche Kollwitzstraße. Per Lautsprecher dringen die Stadtgeräusche in den Innenraum. Draußen stellt eine bezaubernde Assistentin in weißem Overall und mit Hörschutz Bildtafeln zur Schau, die die Aufmerksamkeit der Hörer auf Fahrräder, Passanten und das Rauschen der Blätter lenkt. Das hat etwas zutiefst Pädagogisches. Aber Streich versteht es, die Situation mit Irritationen und Humor zu entschärfen. Bisweilen mischen sich akustische Abwegigkeiten in die Klanglandschaft: Düsenjets und Autobahnen lassen sich natürlich nicht gut mit der pittoresken Szenerie der Kollwitzstraße in Einklang bringen. Man staunt und schmunzelt. Gleichzeitig tragen die Passanten wesentlich zur Szene bei, indem sie die Situation ungläubig kommentieren. „Das ist ja Scheiße“, fasst ein Flaneur seine in Minuten grübelnden Starrens erworbenen Eindrücke zusammen. Die Lacher sind ihm gewiss. Das hat auch etwas von „Versteckte Kamera“, zumal die Fußgänger ja von der akustischen Ebene gar nichts wissen können und also glauben müssen, das Publikum betrachte die Vorüberziehenden um ihrer selbst willen. Was aber eben nur die halbe Wahrheit ist.

En gros wirkten viele Stücke, die im Rahmen der HouseMusik zu hören waren, man muss es leider so deutlich sagen, flach und unbeholfen. Was Streich gelang, dass sich nämlich das Flüchtige der Aufführungssituation auch im Werkkonzept niederschlägt, dass also das Beiläufige auch musikalisch greifbar wird, hätte man sich durchaus öfter gewünscht.

Zu den Musikern, die sich seit je auf diese Kunst verstehen, gehört der englische Table-Top-Gitarrist Keith Rowe, der mit der Improvisationgruppe AMM schon in den 60er-Jahren das Geräusch vom Ton befreite und die Peripherie des Klangs in den Mittelpunkt rückte. Keith Rowe war am Samstagabend mit einem dem mittelalterlichen Komponisten Leonin gewidmeten Set zu hören. Gemeinsam mit Toshimaru Nakamura, der ein mit sich selbst rückgekoppeltes Mischpult spielt, dem Klarinettisten Lucio Capece und dem Tubisten Robin Hayward übte sich Rowe in der Patina des Klangs. Ausgangspunkt des Stückes „Evocations“ war der materielle Zerfall der bildenden Kunst. Mittelalterliche Holzbilder verlieren so, wurmstichig, gedunkelt und kriegsversehrt, ihre darstellende Kraft und werden zu abstrakten Artefakten künstlerischen Tuns. Diesem Prozess unterwarfen die Musiker nun die Werke Leonins. Die Bassklarinette grundierte das Stück mit einem gedehnten Cantus firmus, der tatsächlich aus den Noten des Notre-Dame-Komponisten extrahiert worden war. Die anderen Musiker improvisierten frei. Behutsam, fast zögernd tastete sich das Quartett von Ton zu Ton. Nur Rowe lockerte, als Primus inter Pares, den strömenden Klang gelegentlich auf, indem er von der Gitarre zu Bettfedern und Kofferradio überging und den kleinen Geräuschen des Alltags zu ihrem Recht verhalf. Das wiederum waren magische Momente, die der Flüchtigkeit und der Vergänglichkeit eine Aura verliehen, in der das Konzept der HouseMusik aufs Glücklichste aufging und die einmal mehr bewies, dass – um es mal ein wenig großspurig zu formulieren – in jedem Kleinen etwas Großes schlummert.