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Archiv-Artikel

„Gemeinschaftsunfähig“

Ab Mittwoch setzt sich eine Ausstellung mit der Verfolgung Wohnungsloser im Nationalsozialismus auseinander

Am 20. Januar 1933, zehn Tage vor der „Machtergreifung“ Hitlers, tagten in Erfurt die deutschen Landesfürsorgeverbände. „Zur Bekämpfung der gegenwärtig im ganzen Reich bestehenden Bettler- und Landstreicherplage“, so das Protokoll, hielten deren Vertreter „eine polizeiliche und strafrechtliche Verfolgung der asozialen Wanderer für unerlässlich“ und hofften, „in ihrem Streben nach Aussonderung der asozialen Elemente aus dem Wandererstrom nach besten Kräften“ unterstützt zu werden.

Dem Wunsch der Landesfürsorgeverbände sollte schon im September 1933 entsprochen werden: Das Reichspropagandaministerium initiierte eine spektakuläre einwöchige Razzia gegen „Wanderer“. Der Loyalität der Wohlfahrtsverbände konnte es sich dabei sicher sein: „ein erfolgreiches Zusammengehen von Polizei, öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege und der Presse“ war ganz in deren Sinne. Eine Woche lang suchte die Polizei Nachtasyle, Herbergen und bekannte Treffpunkte heim, zehntausende Wohnungslose wurden verhaftet, allein in Hamburg etwa 1.400. Meist wurden die Verhafteten mit bis zu sechs Wochen Haft bestraft. Weil die Gefängnisse nicht ausreichten, wurden so genannte „Bettlerhaftlager“ eingerichtet. Nicht alle indes kamen nach Verbüßen der Strafe für die „Übertretung“ bloßer Obdachlosigkeit wieder frei. Auf viele warteten dann bis zu zwei Jahre „korrektionale Nachhaft“ in gefängnisähnlichen „Korrektionsanstalten“.

Hintergrund der „Aussonderung der asozialen Elemente“ war die umfassende Rassenpolitik des nationalsozialistischen Deutschlands: „Gemeinschaftsfremde“ wurden nicht lediglich notdürftig versorgt, schikaniert und diszipliniert; abweichendes Verhalten sollte endgültig aus dem „Volkskörper“ entfernt werden. „Asozialität“ galt dabei als ein in „Erbkreisen“ „asozialer Sippen“ vererbter Zustand. Wohnungslose waren deshalb oft Opfer von Zwangssterilisationen und Bemühungen das Wandern zu „ordnen“.

Im Sommer 1938 verschleppten Gestapo und Krimi in zwei großen Verhaftungswellen der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ schließlich mehr als 10.000 Menschen in die Konzentrationslager. Wiedergutmachung haben die wenigen Überlebenden bis heute nicht erhalten.

Mehr über die Situation Wohnungsloser im Nationalsozialismus kann man bis Anfang September im Mahnmal St. Nikolai erfahren. Die dort gastierende Wanderausstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. wird am Mittwoch mit dem Vortrag „Wohnungslose und soziale Außenseiter im Nationalsozialismus“ von Prof. Dr. Wolfgang Ayaß eröffnet.ROBERT MATTHIES

Mi, 6. 8. – Do, 4. 9., täglich von 10.30 Uhr – 17.30 Uhr, Mahnmal St. Nikolai; Eröffnung: Di, 5. 8., 18 Uhr