: Im Osten nichts Neues
Lanyu ist ein vergessenes Eiland rund 70 Kilometer südöstlich der Küste Taiwans. Die sogenannte Orchideeninsel ist die Heimat der Yami, eines australischpolynesischen Stammes von Jägern und Sammlern. Ein Kulturreservat
Auf der Orchideeninsel – der Name verrät es – wurde die Schmetterlingsorchidee 1874 entdeckt. Orchideen waren lange Zeit beliebtes Exportgut. Die vulkanische Insel vor der Südostküste Taiwans wurde von den Japaner als ethnologisches Forschungsgebiet off-limits erklärt. Als die Chinesen die Inseln 1945 übernahmen, blieb diese Beschränkung bestehen. Sie wurde erst 1967 aufgehoben. Bis heute ist die Insel sehr traditionell, auch wenn inzwischen Schulen gegründet wurden und der Tourismus zunimmt.
Seit 1974 deponiert Taiwan Atommüll nach Long Men am südlichen Zipfel der Orchideeninsel, indem sie den Einheimischen falsche Fakten vortäuscht. Trotz Protesten der Inselbewohner wurde bislang keine andere Lösung für den Giftmüll gefunden.
Auf die Orchideeninsel kommt man täglich mit dem Schiff und dem Flugzeug, die in Taidong auf dem taiwanischen Festland zu erreichen sind.
VON ANDREA BACKHAUS
Im Wind klingt Stephanies Lachen scheppernd. „Das ist ganz schön verrückt, allein hierherzukommen. Niemand spricht deine Sprache.“ Ungläubig schüttelt sie den Kopf: „Das ist meine Insel, weißt du. Gut, dass du mich getroffen hast.“ Sie versucht, ihr Englisch amerikanisch klingen zu lassen, fügt immer ein „ya know“ an. Die Freiheit und Unabhängigkeit, die ich ihr als alleinreisende Frau anscheinend vermittle, beeindruckt sie sichtlich.
„Ihre“ Insel, das ist Lanyu, ein vergessenes Eiland rund 70 Kilometer südöstlich der Küste Taiwans. Eine Propellermaschine fliegt zwei Passagiere von Taitung über den stürmischen Pazifik. Einer davon bin ich, die Höhennadel genau im Visier. Es ist das Ticket in eine fremde Welt. Stephanie, eine der beiden Mitarbeiterinnen des Inselflughafens, nimmt mich auf einem knatternden Moped mit in ihr Dorf, wo ich bei einer befreundeten Familie unterkommen soll. „Ich bin hier groß geworden“, erklärt sie, „ich kenne jede Ecke, jeden Strauch und jedes Tier. Ich liebe es hier.“ Es fällt leicht, das zu glauben. Die einzige Straße führt uns entlang den tosenden Wellen, vorbei an sattgrünen Bergen, Palmen und Feldern.
Die sogenannte Orchideeninsel ist Heimat der Yami, eines australischpolynesischen Stammes der Ureinwohner. Von der Welt zurückgezogen, haben sie als die wohl letzten Jäger und Sammler ihre Ursprünglichkeit in den vergangenen Jahrzehnten mit allen Mitteln verteidigt. Zum Beispiel als sich die rund 3.000 Nachfahren Mitte der Neunzigerjahre geschlossen gegen die anhaltende Giftmüllablagerung des Unternehmens Taipower auf ihrer Insel stellten. Dass das Land die Insel fast vergisst, erscheint hier, inmitten der Wildheit des Pazifiks, plötzlich fassbar. Die Yami zählen Lanyu nicht zu Taiwan, die Taiwaner ihr Land nicht zum Rest Chinas. Vom Kleinen aufs Große. Oder umgekehrt.
Ganze sechs Siedlungen gibt es heute auf der Insel, dazu Ziegen, Schweine und Hunde. In zwei Dörfern bauen die Bewohner noch traditionelle Häuser, dunkle Holzhütten, die zum Schutz gegen die Witterung am Hang gebaut werden und nur durch Steinmauern voneinander getrennt sind. Halb versteckt unter der Erde bieten sie Schutz vor Taifunen. Hier leben die Ältesten, an einem Ort, wo Alter noch als ehrbar gilt. Sieht man die Männer und Frauen, die abends nach kilometerlangen Märschen über die Insel mit schmutzigen Füßen und einem Sack gesammelter Süßkartoffeln in ihr Heimatdorf gelangen, bleibt nichts als tiefer Respekt. Alle anderen liegen mittags in Tücher eingehüllt auf den Brettern und dösen. Das Rauschen der Wellen wiegt sie in den Schlaf, und lediglich das Gezanke der Hühner holt sie ins Diesseits zurück. Die Symbiose mit der Natur ist Ausdruck eines Einverständnisses, mit dem Moment, mit dem Leben im Hier und Jetzt. Die eigene Ernte ist karg, besteht aus Süßkartoffeln und Tarowurzeln.
Stephanie war noch nie weg von der Insel. Sie lebt bei ihren Eltern, arbeitet seit ein paar Jahren am roten Ticketschalter des Flughafens und verbringt die Abende mit ihren Kumpels im Dorf. Fährt sie durch den Ort, grüßen sie alle, fährt sie zur Arbeit, hupt sie zum Abschied. Ihre Kumpels, das sind Eric, Ben und Tom. Jeden Abend sitzen sie zusammen inmitten von Kindergeschrei und tollenden Hunden, trinken bitteres Bier und reden. Hier, im geselligen Kreis der Erwachsenen, lernen die Kleinen von den Großen. Der Whiskey neben dem ins Freie gestellten Kinderbett wird stetig weniger, so wie die Konzentration beim Pokern ums Geld. Zehn taiwanische Dollar, und eine neue Runde startet. Sie sind alle hier, zumindest heute Abend. Stephanies Schwager Eric, sein Lehrer Ben, dessen Schwester und ihre Cousine. Eric kramt ein paar Worte Englisch heraus, die er irgendwann mal aufgeschnappt hat. „Nice to meet you“, sagt er fröhlich. Und drückt mir ein kaltes Dosenbier in die Hand.
Was den Deutschen ihr Auto, ist dem Yami-Mann sein Boot. Acht Monate lang, vor der Saison der fliegenden Fische, bauen sie in Handarbeit an den anmutigen weiß-roten Einbaumkanus, verzieren deren hochgezogenen Bug mit eleganten Ornamenten. Für das Festhalten an dieser Tradition hat die japanische Regierung während ihrer 50-jährigen Besatzung Taiwans die Insel als ein Kulturreservat vor allen Einflüssen von außen geschützt. Die Folgen der Isolation sind heute noch spürbar. Selbst Taiwan scheint für die Yami ein anderer Planet zu sein, fern ihrer Vorstellungen. Das Chinesischbuch, das ich Eric hinhalte, schiebt er lachend zur Seite. „No Chinese“ sagt er. Hier sprechen sie den Yami-Dialekt, Mandarin ist eine Fremdsprache.
Yehyu ist so etwas wie das Zentrum der Insel, mit einer rostigen Tankstelle und einem kleinen Laden. Hier spielen die Kinder Fangen, und die Alten übertrumpfen einander beim Mahjong. Jeder kennt jeden, und das schon immer. Privatsphäre gibt es nicht. Bei Einbruch der Dunkelheit wissen alle von meiner Ankunft. „Wo kommst du her?“, fragt mich Erics Schwägerin mit Luftzeichnungen. „Deutschland?“, wiederholen sie unsicher meine Antwort und zucken mit den Schultern.
Beim Abendessen mit der Familie herrscht routinierter Trubel. Es gibt für jeden eine Schüssel Reis, dazu etwas gekochtes Gemüse, ein Glas heißes Wasser. Das grelle Licht erzeugt Kantinenatmosphäre. Die Kinder sind quengelig. Unbeirrbar versucht der sechsjährige Junge während der gesamten Essenszeit, seine Mutter von etwas Bahnbrechenden zu überzeugen. Der ältere Sohn, mit seinen 18 Jahren von allem bewusst distanziert, teilt den Reis aus, sein pechschwarzes Haar fällt ihm dabei in die Stirn. „Kennst du New York?“, fragt er lässig und bewegt sich dazu wie der heldenhafte Sänger eines düsteren Rap-Videos. Als ich nicke, wirft er einen strahlenden Blick durch den Raum. „Cool“, fügt er zufrieden hinzu. Mehr will er nicht wissen.
Der Alltag auf der Insel ist rau, der Tagesablauf streng geregelt. Der Abend endet gegen 21 Uhr, morgens um 5 Uhr kräht der Hahn. Die ersten Geräusche kommen aus der Küche, wo die Mutter das Essen zubereitet. Eine Süßkartoffel gibt’s zum Frühstück, dazu eingelegte Gurken, ein Glas heißes Wasser. Die Eltern schütteln den Kopf, als ich anfange mitzuessen. Ihrem Gast wollen sie die Einfachheit ersparen, schließlich gibt es im Westen Cornflakes, abgepackt. Sie deuten in Richtung Laden, der Vater zeichnet ein Viereck in die Luft. Als ich weiteresse, lachen sie und schieben mir die Teller hin, dazu zwei Holzstäbchen.
Auch hier hat das Internet Einzug gehalten, die Idee von Amerika hängt als Heiligenbild über der Tür. „Die jungen Leute gehen nach Taiwan, wenn sie können“, erklärt mir Rita, eine Freundin von Stephanie, am nächsten Tag während eines Mahjongspiels in gutem Englisch. Wir sitzen in einem der „offenen Wohnzimmer“, einer Bretterbude auf Pfählen. „Sie wollen hier nicht mehr dieses traditionelle Leben ihrer Eltern leben. Sie wollen Geld verdienen und einen guten Job bekommen. Sie wollen ein materielles Leben.“ Rita ist eine zurückhaltende junge Frau mit einem langen Zopf und wachen Augen. Sie senkt die Stimme und fügt ein wenig bedauernd hinzu: „Die Insel hat sich verändert. Die Menschen können sich zwar noch selbst ernähren, alles scheint wie vor einigen hundert Jahren. Aber das ist nicht so. Unter der Oberfläche hat sich viel verändert.“ Doch die wenigsten gehen, das Flugticket ist für die meisten unbezahlbar. Das gemeinschaftliche Trinken dient so auch der Kompensation von unerfüllbaren Wünschen. Während sie redet, zieht Rita die linke Augenbraue hoch. „Es ist ein einfaches Leben“, sagt sie leise, „aber es ist ein gutes Leben.“
„Wir überlegen oft, wie es da drüben wohl aussieht“ erklärt Eric im Schatten vor der Halle des Flughafens. Er nimmt einen Schluck taiwanisches Bier und reicht es weiter, an Ben. Sie sitzen da, nächste Woche, nächstes Jahr. Sie kommen und reden über dies und das, über nichts Bestimmtes. Der Flughafen als Verbindung zu der anderen Welt vermittelt auch die Flüchtigkeit des Augenblicks. Während sie aufs Meer schauen, prosten sie sich zu und nicken.
Stephanie reißt mein Ticket ab. „Guten Flug“, sagt sie lächelnd. Ihre dunklen Augen blitzen, freundlich und sehnsüchtig. Sie wird den Weg zur Maschine nie gehen.