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Archiv-Artikel

„Der dritte Weg führt in die Sackgasse“

SPD und Labour laufen die Leute weg. Sie haben beide ihren Charakter als linke Volksparteien eingebüßt, meint der Soziologe Oliver Nachtwey

OLIVER NACHTWEY, 32, ist Soziologe an der Uni Jena. Er hat vor kurzem über den Wandel der SPD und der Labour Party promoviert.

taz: Herr Nachtwey, der Labour-Vorsitzende Gordon Brown und SPD-Chef Kurt Beck erringen den Doppelsieg im Wettbewerb um den historisch schlechtesten Zustand ihrer Parteien. Ist das historisch parallele Desaster nur ein Zufall?

Oliver Nachtwey: Es handelt sich nicht um Zufall, sondern um das Resultat einer ähnlichen Politik, die ich als Marktsozialdemokratie bezeichnen würde. Sowohl New Labour als auch die SPD haben in ihrer Sozial-, aber auch Gesundheitspolitik dem Markt den Vorzug vor der sozialen Gerechtigkeit gegeben. Als Folge ist während ihrer Regierungsperiode die Ungleichheit gewachsen. Das verärgert und verängstigt die Bürger. Sie wünschen sich einen Wohlfahrtsstaat, der sie vor den Risiken des Markts schützt.

Sowohl Tories als auch Union schadet dies weniger. Warum?

Sowohl von Labour wie von der SPD wendet sich vor allem ihre alte Kernklientel der kleinen Leute und Gewerkschaftsanhänger ab. In Deutschland ist die SPD in vielen Fragen wirtschaftsliberaler als die CDU. In Großbritannien hatte Thatcher den Sozialstaat soweit abgebaut, dass es New Labour nicht schwerfiel, den Sozialstaat wieder auszubauen. Sie haben aber gleichzeitig auch den Marktanteil massiv erhöht. Gestützt von einer Hochkonjunktur stand New Labour über Jahre gut da. Jetzt, durch die Wirtschaftskrise, schlägt der Markt mit voller Wucht zurück.

Wie kommt es denn, dass ein erfolgreicher Ministerpräsident wie Kurt Beck und ein gepriesener Schatzmeister Gordon Brown plötzlich so durchhängen?

Schröder und Blair waren brillante Populisten der Mitte, mit Ausstrahlung ins konservative Lager und einem strategischen Projekt. Beck und Brown haben weder dieses Charisma noch ein strategisches Projekt. Allerdings ist ihre Schwäche eher das Unvermögen, ihre Partei aus einer Krise herauszuführen. Denn der Niedergang der Labour Party begann mit Blair und der Niedergang der SPD mit Gerhard Schröder an der Spitze.

Ein Sturz von Brown nach der Sommerpause wird kolportiert. Gibt es andere, die es besser können?

Die Partei würde sich keinen Gefallen tun. Sie hat mittlerweile weniger als 200.000 Mitglieder, Labour hat sich in den letzten 10 Jahren mehr als halbiert. Der bekannteste Anwärter, Außenminister Miliband, ist ein klarer Vertreter des New-Labour-Projekts. Es wäre ein neues Gesicht, aber keine neue Politik. Wenn sie Brown ablösen, würde der Druck hinsichtlich Neuwahlen unglaublich hoch werden, und sie würden, wie jüngste Umfragen zeigen, mit Miliband wahrscheinlich noch schlechter abschneiden als mit Brown an der Spitze.

Neigt sich die Zeit der Sozialdemokratie ihrem Ende zu?

Beide Parteien befinden sich in der kritischsten Phase nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Charakter als linke Volkspartei ist ernsthaft bedroht. Bei Labour beispielsweise ist der Rückhalt bei den Gewerkschaften und deren finanzielle Unterstützung weggebrochen. SPD und Labour laufen die Mitgliedern in Scharen davon.

Wir erleben also die Nachwirkungen eines mit dem dritten Weg begangenen riesigen strategischen Irrtums?

Für die Parteien war der dritte Weg in ganz Europa fatal. Ende der 90er-Jahre waren vier Fünftel aller europäischen Länder von sozialdemokratischen Parteien regiert oder mitregiert. Jetzt liegen die meisten dieser Parteien am Boden und haben ihre strategischen Visionen vollständig verloren. Insofern kann man tatsächlich davon ausgehen, dass der dritte Weg ein Weg in die Sackgasse war.

Beruhte der Fehler auf dem Wunsch eines Imagewandels – in Zeiten der New Economy weg von der angestaubten Arbeiterpartei?

Viele Bürger in beiden Ländern zählten sich nicht mehr zur Arbeiterschaft, weil sich ihr Leben verändert hatte. Das ist eine reale Entwicklung, die die Parteien reflektiert haben. Aber sich von ihrer Tradition vollständig zu lösen und nur auf die Mitte zu schielen, war falsch. Die Politik des dritten Wegs kommt wie ein Bumerang zurück. In Deutschland zählen sich neuerdings wieder mehr Leute zur Arbeiterschicht, die Mitte ist verunsichert und höchst verletzlich. Die alte Arbeiterpartei wird nicht wieder auferstehen, aber der Sozialdemokratie der Mitte rutscht die gesellschaftliche Basis weg.

INTERVIEW: KAI SCHLIETER