: „Der Widerstand hatte feine Antennen“
Drei Männer stoppten 1943 einen Deportationszug, der vom belgischen Sammellager Mechelen nach Auschwitz gehen sollte. 300 Menschen flohen. Andreas Lübbers hat aus dem Stoff ein Stück gemacht, das heute im Hamburger Sprechwerk uraufgeführt wird
ANDREAS LÜBBERS, 47, Literaturwissenschaftler und Kunsthistoriker, war Dramaturg am Thalia Theater, Hamburger Schauspielhaus und Berliner Ensemble. Seit 2004 leitet er das Sprechwerk.
taz: Herr Lübbers, war der antifaschistische Widerstand in Belgien besonders ausgeprägt?
Andreas Lübbers: Ja. Deshalb haben rund 60 Prozent der in Belgien lebenden Juden den Holocaust überlebt. Besonders gegenüber Kindern waren die Menschen sehr solidarisch. Man brachte sie – getrennt von der Familie und in kleinen Gruppen – in Klöstern oder anderen Institutionen unter. Und selbst wenn Verstecke verraten wurden und die Gestapo diese Kinder abzuholen drohte, waren die Antennen so fein, dass man die Kinder in nächtlichen Aktionen befreite, in dem man Überfälle inszenierte. Da wurde dann auch schon mal eine Ordensschwester gefesselt zurückgelassen, damit die Gestapo keinerlei Verdacht schöpfte.
War der belgische Widerstand besonders gut organisiert?
Ja – wie auch der französische und niederländische. Außerdem war er international. Das lag daran, dass viele Juden aus verschiedenen Ländern nach Belgien flohen und sich dort oft zum Widerstand zusammenfanden. Die Aktionen waren sehr vielfältig und reichten von Attentaten gegenüber deutschen Vertretern und den faschistischen belgischen Rexisten über Anschläge auf Treibstoff- und Munitions- und Waffendepots.
Wird der Widerstand der Benelux-Länder in Deutschland gezielt verschwiegen?
In meiner Ausbildung war davon jedenfalls nie die Rede. Ich habe erstmals im Jahr 2000 durch Marion Schreibers Dokumentation „Stille Rebellen“, auf der auch mein Stück basiert, davon erfahren. In den Schulbüchern gab es immer nur die besetzten Benelux-Länder, die man auf dem Weg nach Paris im Handstreich mitgenommen hatte. Nie wurde erwähnt, dass es dort Widerstand gab – es also ein schwieriges Terrain für die Nazis war. Auch in Mechelen selbst stellte man erst nach Erscheinen von Marion Schreibers Buch einen Gedenkstein auf.
Warum so spät?
Das Ereignis war wohl einerseits zu wenig dokumentiert und andererseits lange Zeit unklar in seiner Dimension: Knapp 300 Menschen aus diesem Zugtransport haben überlebt. Das lag auch daran, dass im belgischen Sammellager Mechelen schon früh das Gerücht ging, dass dieser Zug überfallen würde. Die Gefangenen hatten sich deshalb mit Werkzeugen ausgerüstet, um sich im Laufe der Fahrt aus den Waggons befreien zu können.
Wer waren die Leute, die den Zug stoppten?
Junge Leute am Ende ihres Studiums: unter anderem ein Arzt und ein Philosoph.
Waren sie organisiert?
Nein. Selbst der Überfall fand recht spontan statt, nachdem die Partisanen die Teilnahme verweigert hatten, weil sie ihnen zu gefährlich schien.
Warum eignet sich der Stoff für ein Theaterstück?
Weil er einerseits hoch dramatisch ist und andererseits so deutlich Möglichkeiten von Widerstand und Zivilcourage zeigt, dass er bis heute Gültigkeit hat.
Waren die Motive der Retter politisch?
Nein. Sie hatten einen ethisch-religiösen, spirituellen Freiheitsbegriff. Das sieht man auch daran, dass sie in der Theosophischen Gesellschaft zusammengeschlossen waren.
Wie erging es den Rettern später?
Einige tauchten unter, einige flohen nach England. Youra Livchitz, der Kopf der Gruppe, wurde wenige Wochen später wegen Widerstandsaktivitäten verhaftet und erschossen.
Fokussiert Ihr Stück auch die Geretteten?
Nein, nur die Retter. Es beginnt mit einem Kreis junger Leute, die ein vergnügliches Vorkriegs-Leben führten. Die Ereignisse um sie herum ziehen sich düster zusammen, bis sie irgendwann sagen: Wir sehen nicht mehr zu, ohne etwas dagegen zu tun.
Erzählt Ihre Inszenierung auch von den Nazi-Schergen?
Ja. Es gab im besetzten Belgien zwei Männer, die als Antagonisten gelten können: einerseits den Militärgouverneur Alexander von Falkenhausen, der Nazi-Gegner war und sich sehr menschlich gerierte. Andererseits einen Obersturmführer, der von seinem verbrecherischen Umgehen mit den Möglichkeiten berichtet, die ihm das Regime einräumte. Er steht für den „Judenreferenten“ Kurt Asche. Die Figur wirkt wie ein Klischee. Aber sie ist historisch verbürgt. INTERVIEW PETRA SCHELLEN
Das Stück „Stille Rebellen“ wird heute ab 20 Uhr im Hamburger Sprechwerk uraufgeführt. Klaus-Groth-Straße 23.
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