: Mensch, ärgere dich doch!
Auf einer Großdemonstration am Brandenburger Tor in Berlin versammeln sich zehntausende Klinikmitarbeiter aus ganz Deutschland. Sie fordern mehr Geld – und mehr Kollegen. Ein Ortstermin
VON HENDRIK HEINZE
Wie Spielfiguren sehen die Menschen aus, die auf das Brandenburger Tor zuströmen. Der Deutsche Beamtenbund in Altrosa, die Gewerkschaftler von Ver.di in grün. Viele tragen Weiß, auf ihren Schirmmützen und Transparenten steht geschrieben, aus welchem Krankenhaus sie kommen. Dazwischen einige Ordensschwestern in Schwarz. Wie ein großes Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel sieht die Demonstration für eine bessere finanzielle Ausstattung der 2.100 Krankenhäuser aus.
Die Demonstranten ärgern sich aber doch. Und ein Spiel ist es auch nicht. Rund 85.000 Menschen sind zu dieser Demonstration des Aktionsbündnisses aus Gewerkschaften, Kliniken, kommunalen Arbeitgebern, Ärzte- und Pflegeverbänden und dem Beamtenbund gekommen. Die größte in diesem Bereich, die Deutschland je gesehen hat. Rosa und Grün, Weiß und Schwarz gehen für die gleiche Sache auf die Straße. Ihnen geht es um die angespannte Personalsituation in den Kliniken. Die Bundesregierung hatte am Mittwoch noch 3,2 Milliarden Euro für die Kliniken in Deutschland zugesagt – für die Deutsche Krankenhausgesellschaft ist das eine „Mogelpackung“. Sie sieht einen Bedarf von 6,7 Milliarden.
Der gemeinsame Gegner heißt heute „Politik“, sitzt nebenan im Bundestag. „Der Deckel muss weg“ lautet die zentrale Forderung der Demonstranten. Damit wollen sie sagen, dass die Krankenhäuser in Deutschland sich an viel zu knappe Budgets halten müssen. Seit der Gesundheitsreform 1993 sind die Etats „gedeckelt“, damit die Versichertenbeiträge stabil bleiben. Folglich müssen die Kliniken sparen, und das können sie am einfachsten beim Personal – zum Beispiel bei den Hebammen.
Die sind heute leicht zu erkennen – sie tragen blaue Schärpen, auf denen „Hebamme“ geschrieben steht. „Jedes Kind braucht seine Zeit, um geboren zu werden“, sagt Helga Albrecht vom Hebammenverband. „Diese Zeit haben die Hebammen nicht.“
780 Minuten habe das deutsche Gesundheitswesen für eine Geburt veranschlagt, sagt sie – 13 Stunden von Ankunft bis Niederkunft. 57 Hebammenschulen gibt es in Deutschland, aber was die Schülerinnen lernen, werden sie später nicht anwenden können, wenn sie aufgrund der Personalnot drei Frauen gleichzeitig betreuen müssen. An einigen Kliniken kommt fast jedes zweite Kind per Kaiserschnitt zur Welt, das ist berechenbarer als eine natürliche Geburt. Eine Geburt kann man aber nicht berechnen, sagen die Hebammen.
Susanne Hotz ist sogar noch leichter als Geburtshelferin zu erkennen. Sie trägt ein Storchenkostüm. Die Bastelanleitung hatte ihr Verband zum Download bereitgestellt, die Augen sind aus Styropor. Die 42-Jährige ist leitende Hebamme in einem Karlsruher Krankenhaus und wird im Laufe der Demonstration noch gewisse Probleme haben, ihre Position zu erläutern, denn ihr Storchenschnabel aus rotem Tonpapier ragt über ihren Kopf hinaus und ihren Gesprächspartnern ins Gesicht. Sie hat in 18 Jahren etwa 1.200 Kindern auf die Welt geholfen – und demonstriert nun dagegen, dass die Zeit immer knapper wird, die eine Hebamme mit der werdenden Mutter verbringen kann. Sie richtet ihren Schnabel und schließt sich dem Demonstrationszug an, der aus der Yitzhak-Rabin-Straße in die Straße des 17. Juni einbiegt.
Die Atmosphäre ist fast wie auf einem Volksfest, nicht nur wegen des Geruchs von Bratwurst, der über die Straße wabert. Die meisten Delegationen haben sich mit dem Outfit Mühe gegeben. Ein kleines Trüpplein der FDP hat sich an sie drangehängt und trägt aus den nahen Abgeordnetenbüros eine reisetaschengroße blau-gelbe Pillendose herbei, auf der „Reform“ steht.
Im Bundestag ist Sitzungswoche, und so bittet der Moderator auf der Bühne am Brandenburger Tor die Demonstranten, mal richtig Lärm in Richtung Parlament zu machen. Das machen sie gern. Trillerpfeifen haben fast alle dabei, und überhaupt wirken die meisten kampflustig. Für Pflegeberufe brauche man Idealismus, sagt eine Demonstrantin, sonst könne man einpacken. „Wer saß heute morgen um vier schon im Bus?“, fragt der Moderator in die Menge. Ein lautes Jubeln kommt zurück.