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Archiv-Artikel

Deutschland geht in Ordnung

Am 1. September 2004 erscheint Sven Regeners „Neue Vahr Süd“. Thema: die Sozialisation der staatsfernen 60er-Jahrgänge. Zur selben Zeit wandern diese mental in Deutschland ein. Endlich erwachsen, fragen sie: Wie verdient man okay Geld, kriegt Paar- und Umweltbeziehungen ohne Opfer hin und Kinder groß, die nicht eingeschüchtert sind?

DEUTSCHLAND

Was wirklich gut ist an Deutschland - eine Auswahl:1. Neue Deutsche Küche ist prima. 2. Väter mit Kinderwagen werden nicht mehr angestaunt. 3. Die Innenstadtbezirke der Großstädte werden wiederentdeckt. 4. Liebe und Sex gelten nicht mehr als systematischer Unterdrückungsmechanismus. 5. Man kann selbst Chefärzten inzwischen als Patient Fragen stellen. 5. Man braucht sich nicht zu entscheiden, ob man in die Oper oder in ein Rockkonzert geht. 6. Die Fußball-Nationalmannschaft ist meistens ziemlich okay. 7. Die Klassenzimmer haben Lese-Ecken und gemütliche Sofas. 8. Elternabende. Was? Doch. Sie sind geprägt von Engagement, das mitunter in nervigen Wettbewerb ausartet – aber distanzieren gilt nicht mehr. 9. Man muss praktisch nirgends mit Bestechung nachhelfen. 10. Man kann sich im Großen und Ganzen auf Deutschland verlassen.

Am 1. September 2004 erscheint Sven Regeners Roman „Neue Vahr Süd“. Danach wird in Deutschland viel über eine neue Bürgerlichkeit und eine zeitgemäße Form von Patriotismus debattiert. Ein direkte Verknüpfung von Roman und Debattenlage kann man selbstverständlich nicht herstellen; weder hat „Neue Vahr Süd“ die Diskussionen direkt angeregt, noch hat Sven Regener, sein Autor, sich in ihnen zu Wort gemeldet. Aber sie haben durchaus etwas miteinander zu tun, wenn auch untergründig. Um das zu beschreiben, muss man ein wenig ausholen.

In dem Buch beschreibt Sven Regener die Spätzeit der Siebzigerjahre. Er tut das hochkomisch, gründlich ironisch und mit großartigen Dialogen – schräge Anekdoten von zerfallenen K-Gruppen, genaue Einblicke in die verwaltete Welt der Bundeswehr und eine am Schluss sorgfältig verwüstete WG-Wohnung inklusive.

Was das Buch wirklich interessant macht, ist seine Haltung. Es existieren ja viele Allgemeinbegriffe, die einem immer sofort einfallen, wenn es um die Siebziger geht – Deutscher Herbst, bleierne Zeit, Räucherkerzenterror. Regener schildert stattdessen kleine Geschichten. Er beschreibt eine vergeigte Kriegsdienstverweigerung, Mensaessen, Fummeleien in düsteren Rockkellern, Elternbesuche in aus dem Boden gestampften Neubausiedlungen.

Martin, Achim, Frank, Sibille heißen seine durchs Leben stolpernden Alltagshelden. Eine politische Bewegung ist mit ihnen nicht mehr hinzukriegen – und eine Subkultur auch nicht wirklich. „Neue Vahr Süd“ ist somit das Gegenteil eines Seventies-Revivals. Es ist eher eine Verabschiedung. Wie hart dieses Jahrzehnt tatsächlich war, wie unerbittlich in ihm um Wahrhaftigkeit gerungen wurde, wird gegenwärtig etwas vergessen. Es gab ja nicht nur die RAF. Linke Splittergruppierungen bekämpften sich wegen unterschiedlicher Marxinterpretationen bis aufs Messer. Selbstverwirklichung wurde als Selbstzerstörung zelebriert. Frauen und Männer gingen in Kampfstellung zueinander. (Alles das ist gut nachzulesen in Michael Rutschkys einschlägigem, leider vergriffenem Essay „Erfahrungshunger“.)

Hinter der komödiantischen Oberfläche des Romans zittern all diese gesellschaftlichen Kämpfe noch einmal nach. Und auch wenn der Roman weder essayistisch angelegt ist noch eine kommentierende Erzählstimme besitzt, macht er doch sehr klar, dass es schon gut so ist, dass das alles vorbei ist.

„Neue Vahr Süd“ wurde im Jahr 2004 ein großer Erfolg. Das lag daran, dass das Buch die Fortsetzung des Superbestsellers „Herr Lehmann“ war. Aber es hatte auch damit zu tun, dass das Buch hinter seinem historischen Gewand viel über die Befindlichkeiten der Nullerjahre aussagte. Was die gegenwärtig auf Dauer gestellte 68er-Debattiererei ja verdeckt, ist, dass die Siebzigerjahre für viele Lebensläufe viel prägender gewesen sind. Selbstbefreiung und Suche nach dem richtigen Leben, in den Sechzigern eher noch bestaunte Elitenprojekte rebellierender studentischer Kader, wurden in den Siebzigern von weiten Kreisen der Bevölkerung lebenspraktisch ausgetestet. Eine Generation später, in den Nullerjahren, galt es, sich zu diesen Lebensexperimenten neu ins Verhältnis zu setzen.

Frank Lehmann, die Hauptfigur aus „Neue Vahr Süd“, fungiert hier als ein Stellvertreter der Babyboomer-Generation der letzten geburtenstarken Jahrgänge. In den Siebzigern sozialisiert, fanden sie sich zu Beginn des neuen Jahrtausends zwischen Kindern und auf die Rente zusteuernden Eltern in der Sandwichposition wieder. Oder aber sie hatten sich gegen Kinder entschieden, stellten fest, dass sich das wohl nicht mehr ändern würde, und mussten auch über Sicheinrichten in den Gegebenheiten und endgültiges Erwachsenwerden nachdenken.

Das verbindet untergründig Roman und Debattenlage. „Neue Vahr Süd“ ist der passende Blick zurück zu den Anfang des neuen Jahrtausends und unter den Bedingungen eines durchgesetzten rot-grünen Projekts allgemein verbreiteten Bemühungen, in einer größer gewordenen Bundesrepublik, der Globalisierung und der Unübersichtlichkeit nach dem Ende des Kalten Kriegs anzukommen. In „Neue Vahr Süd“ konnte man sich noch einmal selbst versichern, wo man herkommt, und dass es zu der Unbehaustheit, Unbürgerlichkeit und Unbestimmtheit der frühen Jahre kein Zurück mehr gibt.

So lustig darüber zu lesen ist, leben wollte man so nicht mehr. Aber wie dann? In der Praxis waren die Ansprüche an das eigene Leben ebenso gewachsen wie die allgemeine gesellschaftliche Liberalität. Aber das suchte (und sucht immer noch) nach einem begrifflichen Überbau. Insofern ist es kein Zufall, dass zur gleichen Zeit, als der Roman erschien, in den Feuilletons und auf den einschlägigen Debattenseiten viel darüber nachgedacht wurde, was man denn nun mit seinem Leben anfangen wolle. Genau das war der produktive Kern der Debatten um eine neue Bürgerlichkeit – wenn man durch das debattenübliche Um-die-Ohren-Hauen allzu steiler Thesen und manche allzu professoral vorgetragene Ratschläge, seinen Kindern doch statt immer nur Pommes auch mal Salat zu essen zu geben, hindurchsieht.

In gewisser Weise stehen damit sowohl der Roman als auch die Debattenlage in den Nullerjahren am Endpunkt einer langen gesellschaftlichen Entwicklungsgeschichte. Wie es mit diesem Frank Lehmann in den Achtzigern weiterging, weiß man ja aus den anderen beiden Büchern der Trilogie, aus „Herr Lehmann“ und nun auch „Der kleine Bruder“. Erst musste noch viel Zeit in Kreuzberger Kneipen verbracht und auch sonst mancher Lebensumweg eingeschlagen werden.

Im Schatten von Mauer und Helmut Kohl verbreiteten sich zugleich die zuvor gewonnenen antibürgerlichen Nischen, und sie differenzierten sich aus. Im Gegensatz von Fundis und Realos bei den Grünen fanden die politischen Kämpfe innerhalb der linksliberalen Kreise eine praktikable Form. Und zugleich hellte sich das gesellschaftliche Gesamtbild durch verfeinerte Popkultur und intellektuelle Ironie allmählich auf.

Dann kam die Wiedervereinigung. Hier endet die Trilogie um Frank Lehmann. Aber die Entwicklungsgeschichte ging weiter, und es brauchte noch einige Schritte, bevor ein so souverän und gelassen zurückblickender Roman wie „Neue Vahr Süd“ geschrieben werden konnte. Diese Entwicklungen betrafen im Kern das Verhältnis der Babyboomer zum Staat und der sie umgebenden Gesellschaft.

Es ist zwar in linksliberalen Kreisen nicht üblich, positive Entwicklungen allzu sehr herauszustreichen. Aber ein heutiges Lebensgefühl unterscheidet sich doch sehr stark von dem in „Neue Vahr Süd“ beschriebenen. Im Roman ist dieses Hamlet-Gefühl noch deutlich greifbar: Es ist etwas faul im Staate Deutschland! Dass in der Normalität etwas grundlegend falsch läuft und man sich deshalb in Nischen und Gegenwelten flüchten musste, wird in „Neue Vahr Süd“ genauso deutlich, wie dass diese Nischen und Gegenwelten dann wieder ihre eigenen Probleme produzierten.

In den Neunzigern wird langsam klar, dass es sich in diesem gar nicht mehr so fremden Land inzwischen ganz gut leben lässt

Dagegen wurde in den Neunzigern klar, dass es sich in diesem Land inzwischen immerhin ganz gut leben ließ. Es gibt weiterhin Probleme, klar. Aber die Debatte um das Holocaustmahnmal machte klar, dass diese Gesellschaft sich nicht mehr um Schuldfragen herumdrücken wollte und dass die Erinnerung an die Shoah zum deutschen Selbstverständnis gehört. Die Verhüllung des Reichtstags und dann die transparente Kuppel auf ihm sind gute Symbole dafür, dass wir nicht mehr in einem Obrigkeitsstaat leben.

Und schließlich machten Bücher wie „Generation Golf“ klar, dass auch konservativ geprägte Menschen inzwischen ihre Selbstbefragungsmechanismen, Reflexionsschleifen und Lebenskrisen pflegen wollen. All das ließ den festgefügten Block der Normalität, gegen den die Sechziger und dann die Siebziger rebellierten, von innen her aufbrechen. Und das half bei einer großen gesellschaftlichen Bewegung, die am besten die Grünen-Politikerin Antje Vollmer auf den Begriff brachte: Auch die skeptischen, linken und linksliberalen Kreise wanderten im Verlauf dieser Entwicklung ein ins eigene Land.

Und wie wollte man nun leben in diesem nicht mehr gar so fremden Deutschland? Zum lakonischen Witz von „Neue Vahr Süd“ passt, dass sich in den Bürgerlichkeitsdebatten der Nullerjahre, die auf solche Entwicklungen reagierten, keineswegs die triumphalen Neubeschreibungen durchsetzten. Eher einigte man sich pragmatisch darauf anzuerkennen, dass man in seinen Lebensmix inzwischen auch wieder bürgerliche Elemente aufgenommen hat – neben den bohemistischen Ideen, die sich erstaunlich weit in der Gesellschaft ausgebreitet haben, und der sowieso allgemein verbreiteten Haltung, sich bloß nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Auch das lässt sich als Entwicklungsgeschichte beschreiben. Die Lebensbastelei, deren Frühzeit Regener in „Neue Vahr Süd“ einfängt, wird heute auf einem höheren und selbstverständlicheren Niveau betrieben. Man lebt so, wie man inzwischen seine Wohnung einrichtet – mit Möbeln, die nicht mehr aus einem Guss sind, sondern zusammengesetzt aus bezahlbarer Moderne, Antiquitäten vom Flohmarkt und Ikea.

Man macht kein großes Ding draus, aber geht doch seinen Lebensprojekten nach. Man versucht, auf okaye Art Geld zu verdienen. Man versucht Kinder groß werden zu lassen, die nicht eingeschüchtert sind. Man versucht, Beziehungen zu leben, die ohne Opfer funktionieren. Und man möchte ein Leben führen, das interessant ist und Spaß macht, aber doch so, dass man gegenüber Mitmenschen und Umwelt kein schlechtes Gewissen haben muss. Von alledem steht in „Neue Vahr Süd“ noch nichts drin. Aber wie man von so einem Leben aus auf seine Entwicklungsgeschichte zurückblicken kann, das kann man in dem Roman lesen.

DIRK KNIPPHALS, Literaturredakteur der taz, wurde im geburtenstärksten Jahrgang überhaupt geboren: 1963. Zu der Zeit, in der „Neue Vahr Süd“ spielt, hatte er einen Zettel mit der Aufschrift „Alles zum Kotzen“ über seinem Bett hängen. 2004, als er den Roman las, sah er das differenzierter.