: Hauptsache Wohlfühlen
Interview mit Lutz Hertel vom Deutschen Wellnessverband über das Gesundheitsgeschäft
taz: Ein englischer Edelmann soll anno 1654 den Begriff Wellness zum ersten Mal verwendet haben. Bis zur Wellnessbewegung dauerte es dann aber noch ein paar Jahrhunderte.
Lutz Hertel: Der amerikanische Präventivmediziner Halbert Dunn griff Wellness in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wieder auf. Bis dahin hatten die Ärzte Gesundheit immer sehr krankheitslastig interpretiert. Dunn hatte aber eine andere Auffassung und wählte einen Begriff, der nicht mit Gesundheit assoziiert ist: Wellness, subjektives Wohlbefinden, verursacht durch gesundheitsbewußte Lebensweise.
Wann schwappte die Wellnesswelle über den Ozean nach Europa und Deutschland?
Ende der Achtzigerjahre. In einer Fachzeitschrift für Führungskräfte hatte ich einen Artikel über amerikanische Wellnessprogramme in Unternehmen gelesen. Ich flog dann in die USA, um der Sache auf den Grund zugehen. Nach meiner Rückkehr publizierte ich darüber, und plötzlich kamen ganz viele Menschen auf mich zu und wollten mehr wissen.
„Wellness ist wie früher Fitness. Nur dass diesmal die Seele mitmachen muss“, schrieb der Satiriker Max Goldt.
Mit spitzem Verstand hat er einen Wesenskern von Wellness erfasst. Früher schaute man nur auf die körperliche Komponente und trainierte den Körper entseelt. Das Thema Wohlfühlen dagegen kann man umgangsprachlich als seelischen Prozess bezeichnen.
Wer in die Internetsuchmaschine Google „Wellness“ eingibt, erhält 564.000 Einträge. Da kommt der Verbraucher ganz schön ins Schwitzen …
Es ist nicht überall Wellness drin, wo Wellness draufsteht. Die Kehrseite ist der Wellnepp. Man ist irritiert, weil sehr viele verschiedene Dinge Wellness sind. Das kann ein Auto sein oder eine Massage, ein Teebeutel, Bettwäsche oder ein Arzt. Wellnessanbieter und -produkte vermehren sich schneller als Karnickel.
Gibt es Untersuchungen mit halbwegs verlässlichen Zahlen?
Der Wellnessmarkt ist schwer fassbar, weil der Begriff in vielen Branchen auftaucht. Das Marktforschungsinstitut Wefa beziffert das Jahresumsatzvolumen für Wellness in Deutschland für das vergangene Jahr mit 38,5 Milliarden Euro und sagt für 2003 einen Umsatz von 41 Milliarden Euro voraus. Seit 1999 wächst der Umsatz laut Wefa linear um rund 6 Prozent, das ist ein stabiler Wachstumstrend. Damit steigen die privaten Konsumausgaben für Wellness deutlich stärker als die durchschnittlichen Konsumausgaben.
Eine Marktstudie des Trendforschers Matthias Horx sagt, dass der „größte Nachfrageboom der Zukunft im Wellnesssektor“ entstehen wird und „der medizinische Komplex in vielen Industrienationen zur größten Säule der Volkswirtschaft werden könnte“.
Der Informationswissenschafter Leo Nefiodow, der vor 30 Jahren herauskristallisierte, dass die Informationstechnologie einen neuen Wirtschaftszyklus begründen würde, sieht heute die psychosoziale Gesundheit im Sinne von Wellness als zentralen Antriebsmotor.
Wie kann eine Wirtschaftsbranche vom Wellness-Grundprinzip der genussvoll-gesunden Lebensweise profitieren?
Zum Beispiel die Textilindustrie. Bei functional ware, Funktionsbekleidung, spielt Wellness eine immer größere Rolle. Neue Textilfasern, Hightech-Synthetik-Produkte sollen die Gesundheit mit fördern und man soll sich in ihnen wohl fühlen. Das Ganze begann mit den unsäglichen Wellnesssocken. Und die Firma Triumph produziert Wellness-Strumpfhosen mit Aloe vera, das feuchtigkeitsspendend für die Haut ist.
Nach der Reiseanalyse 2001 der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen machten von 1998 bis 2000 rund 1,1 Millionen Deutsche einen Wellnessurlaub. Das sind 2 Prozent der Bevölkerung; aber rund 10 Prozent interessieren sich in naher Zukunft dafür.
Ich bin da skeptisch, denn es gibt Unschärfen, vieles vermischt sich, weil Wellness mit Kur, Beauty und Sport wild durcheinander geworfen wird. Es gibt heute kaum noch ein Ferienhotel ohne Wellnessangebote, aber nicht jeder, der heute in ein solches Hotel fährt, ist ein Wellnessgast.
Ein neues Ferienhotel ohne Spa, Vitalcenter, Beautyfarm, Hightech-Fitnesscenter könnte wohl gleich wieder dichtmachen.
Das ist so. Wellnesshotels investieren zwar viel in Einrichtungen und lassen schöne Badelandschaften errichten, aber es mangelt in der Regel an programmatischer Kompetenz und professioneller Betreuung.
Der Bedarf an professionellem Personal wächst. Woher soll es kommen?
Vor allem private Institute und Akademien bieten Kurse an zum Wellnesscoach, Wellnesstrainer, Wellnessberater. Das ist ein großes Desaster. Die beruflichen Aufgaben, die auf Personen im Wellnesssektor zukommen, sind mit so viel Verantwortung und Komplexität verbunden, dass sie sie in einem kurzen Lehrgang unmöglich erlernen können. Die Industrie- und Handelskammer bildet in 90 Stunden zum „Wellnessberater“ aus. Das ist der Flop des Jahres.
Was empfehlen Sie Interessenten, die einen Beruf in der Wellnessbranche anstreben?
Wir empfehlen immer eine solide Ausbildung in einem klassischen Beruf. Im nichtakademischen Bereich sind das Berufe aus dem Bewegungssektor oder der Physiotherapie und Massage, im akademischen Bereich sind es Studienrichtungen wie die Medizin, die Ernährungswissenschaft, auch die Pädagogik, angewandte Gesundheitswissenschaften. Wenn man dann in einem Beruf mit Gesundheitsbezug drin ist, kann man sich durch Weiter- und Fortbildung spezialisieren.
Neben umfassender Qualifizierung des Personals fordern Sie Qualitätsstandards für die gesamte Wellnessbranche.
Ich bin ein glühender Verfechter für eine Regulierung des Wellnessmarktes. Bisher gibt es keine Verpflichtung zur Qualitätssicherung und deshalb auch kein staatliches Mandat. Wir vom Deutschen Wellnessverband lassen Experten nach unseren Qualitätsanforderungen anonym Wellnesshotels prüfen und stellen seriösen Betrieben ein Zertifikat aus.
Heilbäder und Kurorte, die von den Einsparungen der Gesundheitsreform betroffen sind, versuchen sich als Wellnessdestination gesundzuschrumpfen.
Kurorte haben nur die Chance der Flucht nach vorne in Richtung auf den Selbstzahler. Es ist für sie nahe liegend, nicht vollkommen das Pferd zu wechseln, sondern im Gesundheitssektor zu bleiben. Im privaten Gesundheitsmarkt ist Wellness das Leitmotiv geworden.
Gibt es Krankenkassen, die Wellnessanwendungen bezahlen?
Das ist in greifbarer Nähe. Die Krankenkassen haben dasselbe Problem wie die Verbraucher: Einerseits ist Wellness eine solide Gesundheitsstrategie, andererseits ist der Markt der Anbieter sehr unübersichtlich.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Wellnesstrend und dem Älterwerden unserer Gesellschaft?
Selbstverständlich. Das Altern ist mit einem Verlust von Gesundheit verbunden. Die Medizin ist zwar besser in der Lage, die Krankheit zu managen, aber sie schafft dadurch keine Gesundheit. Für ein glückliches Leben benötigt man in elementarer Weise die Wellnessphilosophie.
INTERVIEW: GÜNTER ERMLICH
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