Der Schock ist echt

Wechseljahr 2008 (32): Wie fühlt sich Amerika? Dagmar Herzog über die Verfasstheit einer Changing Nation

„Nie wieder werden wir uns so ausbeuten und uns so misshandeln lassen.“ In ihrer Debatte mit Joe Biden appelliert Sarah Palin an die Durchschnittsamerikaner und versucht mit durchsichtigem Populismus, ihren republikanischen Wahlkampfpartner John McCain als Korruptionsbekämpfer und Retter des Volks von den Giergeiern an der Wall Street darzustellen. Dieses Bild von McCain ist frei erfunden. Die Stimmung im Volk aber hat sie schon richtig getroffen.

In den letzten zehn Tagen laufen Amerikaner verwirrter und verstörter herum als seit Jahren. Man sieht den Menschen an, dass sie sich zutiefst betrogen fühlen. Zu lange haben sie sich etwas vorgemacht, zu lange sind sie belogen worden. Der Schock ist echt. Zwei Dramen spielen sich zeitgleich ab: Einerseits geht es um Palin selbst. Sie hat so erbärmlich schlecht abgeschnitten in den Interviews mit Fernsehreportern, dass manche Republikaner sie aus dem Ticket zurückziehen wollten, und statt darüber zu reden, wie viel tolle neue Energie sie der McCain-Kampagne gebracht hatte, drehten sich die Gespräche um die Frage, wie sehr ihre Inkompetenz ihm schaden würde; die Erwartungen an sie waren dementsprechend tief gesunken. Konsens nach dem lebhaften Austausch mit Biden aber war, dass – wenn sie auch McCains seit der Finanzkrise stolpernden Kampagne nicht hat retten können – sie doch wenigstens sich selbst gerettet hat und nicht mehr als Lachfigur dient. Zweitens geht es um die Republikaner als die Partei, die verzweifelt und mit allen Mitteln versucht, sich von dem ehemals so immens arroganten und nun so kläglichen gegenwärtigen Präsidenten abzusetzen. Welche Strategien bleiben ihnen noch? Rassismus ist ein Hebel, der bedient wird. Antisozialismus ein anderer, der immer noch beeindruckend gut funktioniert trotz der offensichtlichen Pleite der Deregulierung.

Und zuletzt gibt es noch einen altbewährten Trick: die evangelikalen Kirchen mobilisieren. Konservative Pastoren, in einem Akt von kollektivem zivilen Ungehorsam (den sie von den Linken abgeguckt und abgewandelt haben), riskieren absichtlich Gerichtsverfahren und den Verlust des steuerfreien Status ihrer Kirchgemeinden. Sie erzählten mit unmissverständlicher Deutlichkeit letzten Sonntag von der Kanzel, als Christ dürfe man nicht für Obama stimmen – weil er für das Abtreibungsrecht ist. Angesichts der Dominanz der Wirtschaftsproblematik wird Sexualpolitik 2008 weniger ausschlaggebend sein als 2004. Aber an diesem Manöver sieht man die Zielstrebigkeit, mit der die schon sowieso sehr aufgeweichte Grenze zwischen Kirche und Staat weiter erodiert werden soll.

Und man bekommt auch einen Vorgeschmack davon, wie – auch wenn Obama gewinnen sollte – die Republikaner als aggressive Opposition ihm über seinen Sieg hinaus immense Schwierigkeiten machen können.

DAGMAR HERZOG, geboren 1961, Historikerin, forscht u. a. über den Aufstieg der religiösen Rechten in den USA