Kreislauf der Straflosigkeit


aus Kabul JAN HELLER

Die Attacke begann gegen ein Uhr früh am 11. Februar 1993. Nach tagelangem Artilleriebeschuss kam sie nicht unerwartet. Führung und Kämpfer der Belagerten entkamen mit knapper Not. Doch viele der etwa 4.000 meist schiitischen Familien in dem Viertel am Nordwestrand Kabuls wagten nicht im Geschosshagel zu fliehen und suchten in Kellern Schutz.

Afschar, direkt neben dem Ort gelegen, wo im Juni 2002 die Loya Dschirga stattfinden sollte, wurde zur Todesfalle. Darüber, was in dieser Nacht genau geschah, gelangten bisher nur wenige Details ans Licht. Vieles stammt aus zweiter Hand und bleibt daher fragwürdig. Organisationen wie Human Rights Watch (HRW) oder amnesty international hatten die afghanische Hauptstadt wegen blutiger Fraktionskämpfe zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen. Zeugen sprechen von siegestrunkenen Mudschaheddin, die plündernd, vergewaltigend und mordend durch die engen Gassen Afschars zogen.

Rana Gul Logari (Name von der Redaktion geändert), ein im deutschen Asyl lebender Paschtune, zitiert einen ehemaligen Studienfreund, der Afschar überlebt hat: In ihrer Raserei hätten die Angreifer „gar nicht mehr genau hingesehen, was sie erschossen: Männer, Kinder, Frauen, sogar Ziegen und Hunde“. Die Leichen seien in den Straßen liegen geblieben. Tagelang habe es nach Verwesung gestunken. Auch ist von Kindern die Rede, die zu sexuellen und anderen Diensten entführt worden seien. Gefangene mussten Zwangsarbeit leisten. Entkommene berichten von nächtlichen Erschießungen. Andere wollen gehört haben, wie sich Männer über Funk Hinweise gaben, in welchem Haus „lohnende“ Vergewaltigungsopfer zu finden seien.

Die Attackierten selbst, die schiitische Partei der islamischen Einheit (kurz: Wahdat), ging erst ein halbes Jahr später an die Öffentlichkeit – als klar war, dass eine angestrebte Allianz mit den Angreifern nicht zustande kommen und erhoffte Ministerämter ausbleiben würden, sagt Ali Muradi, der sich seither um Aufklärung müht.

Als die Wahdat Afschar später im Jahr zurückeroberte, öffnete sie ein Massengrab und filmte. Die Szenen sind bedrückend: Mit Schaufeln legen Männer im Hof eines Hauses eine mit Brettern und vielleicht 30 Zentimeter Erde abgedeckte Grube frei. Darunter kommen halb verweste Leichen zum Vorschein. 57 sollen es sein. Das Video zeigt, wie Angehörige anhand ihrer Kleidung identifiziert werden. Immer wieder weinende, wie unter Schock stehende Menschen. Zwei oder drei weitere Massengräber sollen existieren, angelegt von Kommandeur Seyyed Hossein Anwari. Er kenne „als Einziger genau“ die Zahl der Toten, meint Muradi. Er will zwei Beteiligte getroffen haben, die, von Albträumen geplagt, ins Ausland geflohen seien. Öffentlich hätten sie aber nie gesprochen, und wo sie seither geblieben seien, das wisse er nicht. Zu den Toten kommen zahlreiche Verschwundene. Im Jahr 1995 dokumentierte das afghanische Cooperation Center for Afghanistan (CCA) 671 Fälle seit 1992. Seither ruht die Sache.

Dabei liegen Namen beteiligter Kommandeure vor, und auch die politisch Verantwortlichen für das Massaker sind bekannt. Das Wahdat-Video zeigt ein Transparent mit der Aufschrift: „Die Katastrophe von Afschar – ein Verbrechen von Sayyaf, Massud und Rabbani“. Burhanuddin Rabbani war Anfang 1993 Afghanistans Interimspräsident, Ahmad Schah Massud Verteidigungsminister, Abdul Rabb Sayyaf einer seiner Verbündeten. Kabul war unter verfeindeten Fraktionen aufgeteilt. Mit dem Angriff auf Afschar wollten Rabbani und Massud der Alleinherrschaft in der Hauptstadt einen weiteren Schritt näher kommen. Er müsse deshalb „ganz oben“ geplant worden sein, ist Logari überzeugt. Aber öffentlich will darüber in Kabul niemand reden.

Massud, zwei Tage vor dem 11. September von Al-Qaida-Sympathisanten ermordet, wurde im letzten Jahr offiziell zum Nationalhelden proklamiert und ist seither sakrosankt. Ein französisches Komitee schlug ihn sogar posthum für den Friedensnobelpreis vor. Zwei afghanische Generäle, die neben Abgeordneten, Ministern und den Philosophen Henry-Levy, Finkielkraut und Glucksman zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs gehören, seien sogar an der Planung des Massakers beteiligt gewesen, meint Logari: Muhammad Qasem Fahim, damals Massuds Geheimdienstchef, heute Minister für Verteidigung, und General Babadschan, Standortkommandant am US-Hauptquartier Bagram. Drei Kommandeure, die Zeugen in Afschar gesehen haben wollen, bekleiden hohe Polizeiämter: Scher Alam, Zalmay Tufan und Mulla Izzatullah. Ein vierter, Mulla Taj Muhammad, ist Gouverneur der Provinz Kabul. Alle gehören zur Partei Sayyafs. Anwari ist Minister für Landwirtschaft.

Das Massaker von Afschar ist nur Teil einer langen Kette von Kriegsverbrechen. Sie zieht sich von der Machtübernahme einer Linksregierung 1978 bis zum US-Krieg gegen die Taliban und al-Qaida: Massenmorde an politischen Gefangenen durch das Regime wie durch Mudschaheddin, etwa in Massuds Kerker Tscha-he Ahu im Pandschirtal; die Auslöschung ganzer Dörfer durch sowjetische Kommandos oder Scud-Raketen; die Taliban-Massaker von Masar-i Scharif 1998, Bamijan 1998, 1999 und 2001 und Yakaolang 2001; die Massenmorde an gefangenen Taliban 1997 und Ende 2001 nach dem US-Einmarsch; die Verwendung von Clusterbomben durch die US-Truppen.

Ungeahndet, zum Teil nicht aufgeklärt, sind zahllose politische Morde: vom ersten Präsidenten Daud und dem linksgerichteten Guerillaführer Abdul Madschid Kalakani bis zu Seyyed Bahauddin Madschruh, der in Peschawar ein unabhängiges Informationszentrum aufgebaut hatte, und den Karzai-Ministern Dr. Abdur Rahman und Hadschi Abdul Kadir im vorigen Jahr. Der einzige bisher verurteilte afghanische Kriegsverbrecher ist ein Irrer, der während des Kriegs gegen die Sowjets den Rufnamen „Zardads Hund“ trug. Sein Kommandeur Zardad, der unter falschem Namen in England lebt – die BBC fand ihn, doch ohne Folgen –, hetzte ihn an seiner Straßensperre auf zahlungsunwillige Reisende. Abdullah Shah, so sein richtiger Name, riss ihnen mit den Zähnen ganze Fleischstücke aus dem Körper.

Aber der Prozess gegen ihn, im vorigen Herbst, habe der weiteren juristischen Aufarbeitung von Kriegsverbrechen eher geschadet als genutzt, meint Human Rights Watch. Der Oberste Richter Fazl Hadi Schinwari, ein weiterer Parteigänger Sayyafs und berüchtigt für sein Verbot von Koedukation und Kabelfernsehen, kassierte die verhängte Freiheitsstrafe, setzte eine Neuverhandlung an und legte schon vorher das Urteil fest: Todesstrafe.

Die UN-Berichterstatterin für außergerichtliche Hinrichtungen, die Pakistanerin Asma Jahangir, verlangt deshalb eine unabhängige internationale Kommission, die Fakten über Kriegsverbrechen zusammentragen und deren Aufarbeitung vorbereiten soll. Aber selbst in ihrer eigenen Organisation ist nicht jeder froh über den Vorstoß. Kofi Annans Sondergesandter Lakhdar Brahimi etwa befürchtet, dass dies zu früh komme und den fragilen Friedensprozess unterminieren könnte. Seine Erfahrung habe ihn gelehrt, dass „Frieden und Gerechtigkeit nicht immer Hand in Hand“ gingen, wie er jüngst in einer Rede in New York formulierte.

Aus solchen Erwägungen heraus unterstützt er den US-Kurs, die Warlords in die Karzai-Administration „einzubinden“. Karzai selbst, zunächst Anhänger einer „Versöhnungskommission“, hält Gerechtigkeit heute für einen „Luxus“, den das Land sich noch nicht leisten könne.

Was fehlt, ist eine offene Debatte darüber, was ein afghanischen Verhältnissen angemessener Weg der Aufarbeitung wäre. Aber wie sollte eine solche Debatte vor den Läufen der Waffen jener geführt werden, die für einen großen Teil der Kriegsverbrechen verantwortlich sind?