: Sprich mit mir
Unterstützte Kommunikation: Jörg und Miriam können nicht sprechen. Seit kurzem haben sie trotzdem eine Sprache. Mit einem „Talker“ können sie endlich sagen, was sie wollen – und was nicht. Denn Sprache ist Macht
von SANDRA WILSDORF
Wenn Jörg Pfannkuchen essen wollte, rannte er schreiend in die Küche, riss die Schranktür auf, zerrte alle Pfannen heraus und kreischte dazu. „Finger weg“, hat seine Mutter dann oft gesagt und war genervt. Jörg kann nicht sagen, „ich möchte gerne, dass Du mir einen Pfannkuchen machst“. Der 11-Jährige kann nicht sprechen. Er kann nur Laute von sich geben. Er hat keine Sprache, und deshalb konnte ihn bis vor kurzem niemand verstehen. „Dauerstress“, sagt seine Mutter.
Jörg war immer in Bewegung, immer hektisch, immer laut. Denn was er wollte, musste er sich besorgen. Weil oft niemand wusste, was er wollte, bekam er es häufig nicht. Seine Eltern konnten nur raten, was er gerade tun wollte. Jörg war sehr oft sehr zornig. Aber auch das konnte er nicht sagen. Er knallte Türen, dass die Scheiben knallten und schrie.
Wenn Jörg heute sauer ist, dann drückt er eine bestimmte Taste, und sein „Smalltalker“ sagt „ich bin sauer“. Und wenn er einen Pfannkuchen will, tippt er auf die entsprechende Taste. Dann sagt der Apparat „Pfannkuchen“, und Jörg bekommt ohne Kreischen, was er will.
Seit Jörg mit „unterstützter Kommunikation“ arbeitet, hat sich das Leben der Familie Jungermann komplett geändert. Denn Jörg hat sich komplett geändert. Er hat eine Sprache bekommen. Und das macht seine Welt bunt. „Wenn Menschen sich nicht ausdrücken können, dann denkt man schnell, sie können auch nichts. Sie werden leicht unterschätzt“, sagt Ruth Brüns. Die Sozialpädagogin arbeitet bei „mittendrin“, einem Träger der Behindertenhilfe, der nach dem Grundsatz arbeitet: Mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung.
Dazu gehört auch der Bereich unterstützte Kommunikation, zu dem Ruth Brüns gehört. Sie kommt einmal die Woche für einen Nachmittag zu Jörg, weil er lernen muss, mit seinem neuen Gerät umzugehen.
Jörgs Mutter, Evelyn Jungermann, ist in den vergangenen Monaten klar geworden, dass sie oft ungerecht zu Jörg war. „Ich dachte oft, er wäre ungeduldig, wenn er nicht locker ließ. Heute weiß ich, er wollte einfach bestimmte Worte immer wieder hören. Wie andere Kinder auch.“ Als Jörg klein war, wurde er zunächst nur wegen seiner epileptischen Anfälle behandelt, von denen er bis zu acht am Tag hatte. Er stürzte ständig und überall, verletzte sich häufig dabei und musste jahrelang einen Helm tragen. Er bekam schwere Medikamente. Irgendwann stellten die Ärzte fest, dass die Epilepsie nicht die eigentliche Krankheit, sondern nur Symptom war. Jörg hat Verkalkungen im Gehirn, leidet unter tuberöser Sklerose. Inzwischen bekommt er die Anfälle seltener, aber er ist immer noch ein schwieriges, manchmal aggressives Kind.
„Ich hatte irgendwie immer das Gefühl, dass er so viel merkt“, erzählt Evelyn Jungermann. Gerade als sich das Gefühl in ein „es muss etwas passieren, sonst werde ich verrückt“ steigerte, bekam Jörg in seiner Schule für geistig Behinderte eine neue Referendarin. Die konfrontierte ihn vor etwa eineinhalb Jahren zum ersten Mal mit einem Kommunikationsgerät. Zunächst ging es nur um die Frage: „Erkennt Jörg Ursache und Wirkung?“ Erkennt er, dass es einen Ton gibt, wenn er eine bestimmt Taste drückt? Jörg machte umgehend und unmißverständlich klar, dass das doch wohl völlig logisch sei.
Die Eltern waren begeistert, die Lehrer skeptisch und die Referendarin schon wieder weg, als Jörg sein erstes Gerät bekam. Das hatte fünf Tasten. Damit kann die Lehrerin Unterricht aufnehmen, damit seine Mutter eine Vorstellung von dem hat, was Jörg am Vormittag gemacht hat, sie kann Botschaften aufzeichnen und Tasten mit Worten belegen, die für Jörg wichtig sind.
Weil auch das schnell voll war, hat Jörg jetzt einen „Smalltalker“, mit dem er auch Grammatik und ganze Sätze lernen kann. Schon dass er mit drücken auf „Miriam“, „Fahrrad“ und „draußen“ sagen konnte, was er tun wollte, war ein Riesenfortschritt. Jetzt lernt er gerade „ich möchte“ „Fahrrad fahren“.
Heute ist „Ruth-Tag“. Seit Stunden hat er seiner Mutter immer wieder mitgeteilt, wie er die Stunden mit ihr verbringen will. Als sie kommt, holt er den Apparat, der aussieht wie ein Laptop. „Tunnel“, drückt er. Und dann „S-Bahn“, „Bahnfahren“ und dann immer wieder „schnell“, „fahren“, „fahren“. Jörg liebt das S-Bahnfahren. Dafür braucht er nun nicht mehr zu schreien, er muss nicht mehr verzweifeln, weil niemand ihn versteht. „Er ist viel ruhiger geworden, viel konzentrierter“, sagt seine Schwester Anja. Jörg hat endlich einen Kanal.
„Ich habe in dieser Zeit viel über Jörg, aber auch über Kommunikation gelernt“, sagt Evelyn Jungermann. Darüber, dass Kommunikation nicht nur das Aneinanderreihen von Worten ist, sondern eine Welt. Eine Welt, an der nicht teilhat, wer nicht mitredet. Die Mutter vergleicht das mit der Situation, an einem Tisch mit Leuten zu sitzen, die eine fremde Sprache sprechen. Lässt die Konzentration nach, rauscht das Gespräch als Schwall von Worten ohne Inhalt vorbei.
Seit Jörg sich ausdrücken kann, ist er selbstbewusster geworden. „Er hat etwas zu erzählen.“ Er ist klarer geworden. Und neugieriger. „Früher konnte er ja nie Zwischenfragen stellen, hat schnell abgeschaltet.“ Er kann plötzlich Formen erkennen und sortieren. „Als ich das der Lehrerin erzählt habe, hat sie nur gesagt: Frau Jungermann, Sie müsssen ihren Sohn nicht zum Abitur bringen.“ Die Mutter ist wütend: „Ich weiß, dass Jörg behindert ist. Aber ich muss ihm doch Futter anbieten, er zeigt uns seine Grenzen nicht von alleine.“ Seine Erfolge haben ihr gezeigt, „dass geistige Behinderung sich relativieren kann“.
Miriam Leon wäre auch ohne den Talker irgendwie durchs Leben gekommen. Die 12-Jährige hat das Down-Syndrom. Auch sie kann nicht sprechen, aber das macht sie nicht wütend. Ihre ansteckende Fröhlichkeit beschert ihr die gewünschte Aufmerksamkeit. Als sie einen Talker bekam, hat der etwa ein Jahr in der Ecke gelegen. „Wir verstehen auch so, was sie will“, sagen die Eltern und benutzen das Gerät deshalb zu Hause kaum. Deshalb kommt Ruth Brüns auch zu Miriam. Und hat festgestellt: Miriam liebt Worte. Sie drückt „Quatsch“, schlägt sich mit der Hand gegen die Stirn, drückt: „Du spinnst ja.“ Und auf die Frage: „Was hast Du in der Schule gemacht?“ drückt sie die gespeicherten Namen von Daniel, Holger, Felix und Marcel. Was wollen wir machen? „Musik“. Miriam ist Fan von DJ Bobo, und zu seiner Musik spielt sie Luftgitarre.
Den Pädagogen von „mittendrin“ geht es vor allem darum, dass die nicht sprechenden Menschen merken, dass sie mit dem Kommunikationsgerät etwas erreichen. Deshalb belegen sie die Tasten mit Worten, die für ihre jeweiligen Benutzer wichtig sind. Mit klaren Ansagen wie „ich möchte nicht, dass Du mich schlägst“, mit Schimpfworten, Lieblingsdingen, Namen. Denn „Sprache ist Macht“, erinnert Karsten Denecke, Sonderpädagoge bei „mittendrin“, an einen Grundsatz, der Sprechenden nicht weiter auffällt, für Nichtsprechende aber bedeutet, dass sie eben keine Macht haben. Weder über sich, noch über andere. Wer schweigt, läuft meistens nebenher und erkämpft sich Aufmerksamkeit nicht selten über Aggressivität. Durch die Geräte geht das zum ersten Mal auch anders.
Als erstes programmiert Denecke meist „sprich mit mir“ ein. Das verwirre viele Lehrer zunächst. Sprechen? Wie denn? Was denn? Aber oft entwickele sich daraus die Entdeckung, das Kind unterschätzt zu haben. „Es geht uns nicht darum, dass diese Kinder Abitur machen. Es geht um Zufriedenheit mit sich selbst. Um Lebensfreude.“
Zu vielen Lehrern, die an Sonderschulen unterrichten, hat Denecke ein gespanntes Verhältnis. Denn die finden es nicht immer witzig, dass Denecke und Kollegen ihren Schülern Kraftausdrücke geben, mit denen sie auf Tastendruck beschimpft werden. Denecke sagt: „Ich muss dem Jugendlichen eine für ihn angemessene Sprache geben. Und dann muss ich die pädagogische Auseinandersetzung darüber führen, dass er sie nicht immer benutzen darf.“
Seit einigen Tagen entscheidet sich Jörg beim „Mensch ärgere Dich nicht“ für eine Farbe. „Farben waren ihm bislang völlig egal, er konnte sie ja nie ausdrücken.“ Dass er sich am besten hinsetzen muss, wenn er einen epileptischen Anfall nahen fühlt, weiß Jörg schon länger. Aber neulich hat seine Mutter ihn nach einem Anfall gefragt, „was war denn das?“ Jörg hat auf die Taste mit dem Gewitter gedrückt.
Gewitter im Gehirn.