: Die Weihe des Hauses
Mit „Letzte Grüße“ hat Walter Kempowski sein Romanwerk geschlossen: Der Autor und seine Hauptfigur dürfen auch hier nicht verwechselt werden – obwohl sie beide ältere Schriftsteller sind, zwischen Hamburg und Bremen ein üppiges Anwesen bewohnen und dieselben Unterhosen tragen
aus SassenholzBenno Schirrmeister
Für Zweifel ist es jetzt zu spät. Das Peinliche der Situation hätte man sich aber auch wirklich schon vorher ausmalen können: sich einschleichen, als wäre der Hausherr kein Literat, der seinen letzten Roman vorgelegt hat, sondern ein Objekt investigativer Begierde. Ein Verdächtiger, etwa ein Bankier mit mindestens sehr dunklen Flecken auf der weißen Weste.
Dann ja: dessen verlassenes Haus könnte vielleicht ein in Ungnade gefallener Journalist durchkämmen, mit Argusaugen nach belastendem Material spähend, das sich in einer arglos abgelegten Tasche fände: Nichts rehabilitiert so gut wie ein echter Knüller.
Aber hier, in Walter Kempowskis Einöde? Vom Feldrand meißelt ein Traktor, Krähen winken vorbei. Zu enthüllen gibt es da wirklich nichts. Alles ist längst aktenkundig; der neue Roman heißt „Letzte Grüße“; der Name des Hauses – Anwesen, das wäre das treffendere Wort: so groß und sogar, rechts, am Ackersaum, mit einem runden Türmchen – stand schon in wirklich jeder Zeitung.
Über Walter Kempowski – in Klammern: „Tadellöser & Wolff“ – wird immer alles gewusst: auch Interviews mit ihm zu lesen. Aber vor allem – die Anlässe lassen sich schon finden – wird der Autor porträtiert: in Zeitungen, in Journalen, in Magazinen, auch im Fernsehen. Deshalb wird gewusst, dass er, verheiratet, zwei Kinder, Jahrgang 1929, aus Rostock stammt.
Ebenso wird gewusst, dass er vor seinen Lesungen stets warmen Vanillepudding isst, bis zu dieser Zwischenmahlzeit aber ein Nickerchen von rund einer Stunde, selten sogar mehr, zu halten pflegt. Deshalb sollen Buchhändler oder sonstige Veranstalter gezwungen sein, im Falle seines Auftretens eine Liege bereit zu stellen.
Auf Pünktlichkeit, so heißt es, lege der Autor, der bekanntermaßen Schnurrbart und Brille trägt, viel Wert. Gerne wird in diesem Zusammenhang zitiert, dass er in den 60er Jahren als Dorfschullehrer gearbeitet hat, schon damals ziemlich weit ab, bei Zeven, auf halbem Weg zwischen Bremen und Hamburg.
Vom Fahrweg her wirkt das Haus gedrungen, und wie weitläufig das Grundstück dann doch ist, lässt sich von außen nicht abschätzen. Schwarze Flecken auf dem Altweiß des Putzes stammen von einem Rankgewächs, es könnte eine Klimatis sein, im Winter bleiben nur die Blattspuren und gewundenen Striche der verholzten Stiele.
Vor 20 Jahren – da war Kreienhoop noch neu, strahlend und glänzend – hatte der Schriftsteller angekündigt, sich hier ein pädagogisches Arkadien einrichten zu wollen. Geschrieben hatte er damals bereits fünf Romane, oder sechs, wie man’s nimmt. Drei weitere sind seither erschienen. Mehr, so sagt Kempowski selbst,werden es wohl nicht: Es gebe noch andere Projekte. Das Echolot werde er als Nächstes vollenden, dann seien noch zwei Tagebücher zu edieren. Danach sei er, kurz überschlagen, 81 Jahre alt. „Ob dann die Spannkraft noch reicht für einen Roman?“ Das glaube er kaum.
Letzter Roman: Viel endgültiger geht es kaum. Und im Grunde wäre eine Rezension wohl das angemessenere Genre gewesen, genauer: eine hymnische Eloge in gestanzten Sätzen mit kühnen Thesen, in denen das Wort „durchaus“ möglicherweise sogar mehrfach gefallen wäre. Dass die „Letzten Grüße“ ein historischer Roman aus dem Jahr 1989 seien, hätte darin mit Fug und Recht behauptet werden können.
Und dass es Walter Kempowski mit einem gewohnt handlungsarmen Plot – erzählt wird schlicht und mitunter ergreifend die am 9. November tödlich in einem Hotelzimmer vor einem laufenden Fernseher endende Lesereise des Literaten Alexander Sowtschick durch die Vereinigten Staaten – ganz ohne Zweifel als erstem deutschen Schriftsteller gelinge, dem Fall der Berliner Mauer ein angemessenes weltgeschichtliches Format zuzuweisen: das eines simplen Kommas nämlich.
Ein alternder Schriftsteller auf Amerika-Reise – das klingt erst einmal zu lächerlich burlesk, um die Erdenschwere des Historischen zu beglaubigen. Und dazu noch diese Forderungen: „Sie müssen dafür auch ‚Alkor‘ gelesen haben“, hatte Kempowski gesagt, das Tagebuch stamme schließlich aus demselben Jahr, auf jeden Fall aber auch die „Hundstage“. Denn dieser sei schließlich gleichsam der Zwilling des jetzt erschienenen Romans, beide mit derselben Hauptfigur. Und während im ersten Band, also in den „Hundstagen“ die Frau das Haus verlasse und er allein seinen Sommer dort verbringe, sei es in „Letzte Grüße“ eben Alexander Sowtschick, der sich auf Reisen begebe. Ganz spiegelbildlich wären die beiden Bücher dann wiederum auch nicht, allein schon des Endes wegen. Aber man werde es ja sehen.
Ein anspruchsvoller Autor: nicht zu haben ohne das Werk. Da muss er sich auch nicht wundern, wenn mehr über seine Brillen- und Bartmode geschrieben wird und über seine Puddinggelüste.
Das Haus ist nicht völlig verlassen: In gebotener Zurückhaltung führt die Archivarin durch die Räume. Der Schreibtisch ist eine Bühne: Säuberlich sortiert eine Leselupe, Stifte, im Buch eine Schere. Frei ist der Blick aufs Feld, ein schmales Fenster mit niedlichen Gardinchen. In den Falten dieses Vorhangs verbergen sich zwei Figürchen. Nippes. Vielleicht sind sie Ersatz-Personen, Fixpunkte, die den vielstimmigen, aber so gestaltlosen Chor des Echolots tragen: Hier an diesem Tisch also montiert Kempowski das kollektive Tagebuch des Zweiten Weltkriegs, als Geschichte ohne Akteure, aus zahllosen Exzerpten. Ironie des Schicksals: Das Genre, in dem sich Individualität ihrer selbst vergewissert wird ihm unter der Hand zur Gattung, in der sie sich, in winzige Fragmente aufgelöst, zum unterseeischen Panorama des Leidens neu formiert.
Ein heller Raum, die ganze Wand aus Glas: Im Salon schweigt ein schwarzer Flügel. Man könnte vielleicht einige Takte der Jagdsonate klimpern – bloß um zu sehen, ob die Archivarin die akustische Anspielung zu entziffern vermag. Doch auch die Frage nach dem Badegang bleibt ungestellt.
Es ist kaum möglich, sich dem Abgleich der Requisiten zu entziehen: Die Teppiche jedenfalls sind da, und auch die Bilder der beiden Kinder, derer in beiden Romanen gedacht wird. Ein heimgesuchtes Haus ist es, auch wenn es verlassen wird: In den „Hundstagen“ findet Sowtschick, als er von einer Fahrt nach Hamburg zurückkehrt, das Anwesen von Einbrechern verwüstet vor. Und in „Letzte Grüße“ stößt der burleske Alexander mitten in der Neuen Welt auf seine norddeutsche Fluchtburg: Als Fotografie und, in Gedanken, als Schauplatz möglicher Wasserschäden.
Die Ähnlichkeit von Kreienhoop mit jenem Haus, das die Romanfigur Alexander Sowtschick bewohnt, ist Teil eines Vexierspiels und möglicherweise sein bester Schlüssel: Vielleicht sind die zahllosen Porträts nichts anderes als seine mehr oder minder gelenkigen Fortsetzungen – ob man nun der Versuchung erliegt, die Hauptfigur mit ihrem Dichter zu verwechseln – oder gerade nicht. Natürlich, das ist sehr trivial: nur weil sie die gleiche Profession und ungefähr das nämliche Alter haben und beide so ihre Marotten pflegen.
Umgekehrt wird aber auch, wer Kempowski gegenüber zu entschieden den Unterschied betont, vielleicht Erstaunliches erleben: Plötzlich steht dann der alte Herr von der Kaffeetafel auf, schiebt den Hosenbund nach vorne und kontrolliert die Marke seiner Unterwäsche. Und erläutert mit bestürzender Offenheit, dass Sowtschick schließlich seine Unterhosen trage. Das würde man beeiden können.
Walter Kempowski „Letzte Grüße“, 430 Seiten, Knaus Verlag, 22,90 Euro