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Archiv-Artikel

strafplanet erde: am servicepoint der nutzerorientierten alltagsforschung von DIETRICH ZUR NEDDEN

Mag es Zufall sein oder der notwendige Lauf der Dinge (ist ja eh dasselbe): Fast aufs Jahr genau zwei Säkula nach dem Ausbruch der Kant-Krise des krisenanfälligen Kleist ist von neuen Forschungsergebnissen zum kategorischen Imperativ zu berichten. Wir erinnern uns mühsam, eventuell ungenau: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Ort des Freiluftlaborversuchs war eine Fußgängerampel. In Deutschland tragen viele Ampeln dieses Typs Aufkleber mit dem Appell, bitteschön Kindern ein Vorbild zu sein und nur bei grünfarbigem Lichtsignal über die Straße zu gehen, nie und nicht aber bei Rot, selbst wenn weder von rechts noch von links automobile Gefahr droht, selbst morgens um zwei in einem gottverlassenen Nest, in dem das Einzige, was sich bewegt, herumrollende Tumbleweeds sind.

Bei Zuwiderhandlung wartet die Nemesis in Gestalt eines Elternteils mit Kind neben einem. Denn wenn etwas sicher ist, dann dieses: Unter dem mehr oder weniger bestirnten Himmel gibt es keine zuverlässigere Methode, Eltern in Rage zu bringen, als vor den Augen ihres Kindes bei Rot die Straße zu überqueren. Und haben sie nicht Recht? Kinder machen doch alles nach! Überschätzen, während sie dem Nachahmungstrieb folgen, ihre Urteilskraft, unterschätzen die Geschwindigkeit der todbringenden Fahrzeuge. Zorneswütige Blicke sind das Geringste, was zu ernten ist, wenn man trotzdem rübergeht, Beschimpfungen keine Ausnahme. Diese Frau schimpfte. „Aber ist es nicht“, brüllte ich zurück, „wichtiger, Kindern beizubringen, eben nicht alles nachzumachen? Müssen sie nicht vor allem lernen, dass Erwachsene Fehler machen, sich nicht immer richtig verhalten?“ Das hatte gesessen. Die korpulente Frau war verblüfft, machte nicht den Eindruck, als ob sie verstand, was ich meinte, exakter: was ich da schwafelte. Deshalb legte ich noch ’ne Schippe drauf – der Champion der Aufklärung hatte noch mehr auf Lager –, temperierte aber den Ton merklich herab: „Vorausgesetzt, gnädige Frau, es stimmt, dass Unmündigkeit das Unvermögen ist, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, dann sollte es doch unser Ziel sein, dass Kinder sich ihres eigenen Verstandes ...“

„Ach, reden Sie doch nicht so einen Quatsch.“ Die Frau gehörte zu der Sorte Mütter, die für die Galerie spielen. Hauptsache, ihre Umgebung ist gezwungen, Anteil an ihren demonstrativ vorbildlichen Erziehungsmethoden zu nehmen. „Sie gehen niemals bei Rot?“, fasste ich nach. „Doch, aber nur, wenn kein Kind in der Nähe ist.“ Woher sie denn wissen könne, dass nicht ein Kind hinter irgendeiner Gardine ihr Fehlverhalten beobachtet? Sie schnaubte und schritt mit ihrem zeternden Kind fürbass: „Unverantwortlich so was. Ich bin ja nur froh, dass Sie keine Kinder haben.“ Das Quietschen der Reifen war bis in die Vorstädte zu hören. Aber wo waren meine beiden Blagen? Mündig, wie sie waren, hatten sie sich längst gelangweilt auf den Heimweg gemacht.