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Archiv-Artikel

Die aus dem Zwischenreich

Mit „Nachtarbeit“ hat der tschechische Autor Jáchym Topol einen vielstimmigen und dichten Roman geschrieben

von KATHARINA GRANZIN

Lange galt der tschechische Autor Jáchym Topol als junger Wilder. Ein jugendlicher Dissident, begnadeter Lyriker, Songschreiber, kurzum: ein Star des kulturellen Undergrounds. Nach der „samtenen Revolution“ schrieb er seinen ersten monumentalen Roman „Die Schwester“, dem bald der kürzere „Engel Exit“ folgte. Besonders „Die Schwester“ mit seinen Visionen eines Endzeiteuropas, dargeboten in einer einzigartigen Mischung aus Hochsprache, Slang und fremdsprachigen Versatzstücken, barst förmlich vor literarischem Schöpfungsdrang. Ein toller, irre talentierter Autor, aber auch ziemlich anstrengend zu lesen.

Dann war ein paar Jahre lang Funkstille. Erst 2001 erschien Topols dritter Roman, der unter dem Titel „Nachtarbeit“ jetzt auch auf Deutsch vorliegt (souverän übersetzt von Eva Profousová und Beate Smandek) und einen anderen Topol zeigt. Der überbordende Gestus des jungen Wilden ist verschwunden. Die sprachliche Überkapazität des Lyrikers tritt nicht mehr allerorten über die Ufer, sondern wird gebändigt durch eine einigermaßen lineare Narrativität.

Während Topols frühere Romane im Nachwende-Europa spielten und ihre düstere Fantasie zum großen Teil aus dem chaotischen Leben moderner Großstädte bezogen, hat „Nachtarbeit“ ein ländlich-historisches Setting. Als die Panzer der Sowjets dem Prager Frühling den Garaus machen, erleben der halbwüchsige Ondra und sein kleiner Bruder Kamil die Apokalypse des Privaten. Die Mutter, eine Alkoholikerin, ist in der Psychiatrie. Der Vater, der einer geheimnisvollen Erfindung wegen von den Russen gesucht wird, scheint die Familie verlassen zu haben, taucht nun aber plötzlich auf und verschickt die Jungen in einer dramatischen Aktion aufs Land. Der Großvater, der sie dort erwarten sollte, ist kurz zuvor gestorben, und so bleiben die Jungen sich selbst überlassen.

Die anfangs geschilderte jugendliche Erlebniswelt aber – Schwärmereien, Spiele, Mutproben – geht bald über in eine grausige Realität. Einige Morde im unmittelbaren Umkreis des Dorfes setzen eine Kette von Ereignissen in Gang. In einem regelrechten Rachefeldzug rauben die Zigeuner, die am anderen Ufer des Flusses wohnen, das Dorf aus, woraufhin die Dorfbewohner sich rüsten, die Zigeunersiedlung dem Erdboden gleichzumachen. Ein plötzliches Hochwasser aber verhindert den Pogrom – nur ein Beispiel für die tragende Rolle, die das Wetter in diesem Roman spielt. Es kommentiert geradezu die Handlung, die, wenn man ihrem logischen Verlauf folgt, höchstens zwei bis drei Tage umfassen kann. In dieser kurzen Zeitspanne wechseln mehrmals die Jahreszeiten. Im Hochsommer kommen die Jungen im Dorf an, durch Schnee und Eis müssen die Dorfbewohner am Schluss fliehen. Schon damit wird ein symbolischer Rahmen gesteckt, in dem alles neben einer konkreten zugleich eine zeichenhafte Bedeutung annimmt. Auch die tschechische Geschichte scheint mal das Gemeinte, mal Metapher für anderes zu sein. Die russischen Panzer etwa, die durchs Dorf nach Prag fahren, verweisen auf ihre realen Vorbilder, doch nimmt man sie auch – ein nebelhafter Spuk – als blasse Metapher staatlicher Gewalt wahr, die seltsam hilflos wirkt angesichts der ohnehin allgegenwärtigen Bedrohung des Menschen nicht zuletzt durch die Natur. Bäume treten aus dem Wald, als wollten sie die Menschen verfolgen. Der Berg wirkt wie der Kopf eines Riesen. Im Dräuen der Elemente kündigt sich die Apokalypse an.

Es ist nicht nur diese metaphorisch geladene Grundstimmung, die „Nachtarbeit“ mehr zu einem epischen Poem macht als zu einem Roman. Wie die verschiedenen Stimmen, denen man erst nach und nach Person, Zeit, Ort zuordnen kann, aus dem Nichts zu sprechen beginnen, hat viel von der Selbstvergessenheit der Lyrik. Diese Stimmen zu erkennen und sich ihre Perspektiven zu Eigen zu machen, verlangt vom Leser eine konzentrierte Hingabe an den Text, die mit dem Gefühl belohnt wird, privilegierten Zugang zu einem sonst unzugänglichen Zwischenreich erhalten zu haben. Wenn man wieder daraus auftaucht, ist man fast ein wenig enttäuscht, weil entzaubert, und gleichzeitig erleichtert, da nun das Gefühl der Beklemmung nachlässt. Doch würde jemand fragen, könnte man nur ungefähr sagen, wo man gerade gewesen ist. Versunken in einen vielstimmigen, unheimlich dicht gewebten und auch unheimlichen Text, der nicht so hermetisch ist, wie er sich gibt, aber auf jeden Fall viele Geheimnisse für sich behält.

Jáchym Topol: „Nachtarbeit“. Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová und Beate Smandek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 314 Seiten, 22,90 Euro