: Wahltag im Jahre 2008
Im August 1955 veröffentlichte der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov eine Kurzgeschichte, die am heutigen Wahltag spielt: Die Vereinigten Staaten sind eine „elektronische Demokratie“, in der ein Zentralcomputer einen einzigen Durchschnittsbürger ermittelt, der dann den US-Präsidenten wählt …
Linda, zehn Jahre alt, war das einzige Familienmitglied, dem es Spaß zu machen schien, wach zu sein.
Norman Muller konnte sie jetzt in seinem ungesunden Halbschlaf hören. Nachdem er zwei Schlaftabletten genommen hatte, war es ihm vor einer Stunde endlich gelungen, einzudämmern. Sie war an seinem Bett und schüttelte ihn. „Papa, aufwachen. Wach auf!“
Er unterdrückte ein Stöhnen. „Schon gut, Linda.“
„Aber Papa, es sind mehr Polizisten da als jemals sonst! Streifenwagen und alles!“
Norman Muller erhob sich auf einen Ellbogen und blinzelte trübe umher. Er hörte Sarah, seine Frau, in der Küche herumschlurfen, wo sie ihren morgendlichen Pflichten nachging. Sein Schwiegervater Matthew erfüllte das Badezimmer mit Husten und grunzenden Geräuschen. Kein Zweifel, daß Handley schon fertig war und auf ihn wartete. Dies war der Tag. Der Wahltag.
***
Das Jahr hatte wie jedes andere Jahr begonnen. Vielleicht ein bißchen schlimmer, weil es das Jahr der Präsidentschaftswahlen war, aber wenn man es recht betrachtete, war es doch recht erträglich gewesen. Die Politiker sprachen über die großartige Volksvertretung und die mächtige elektronische Intelligenz, die dem Willen des Volkes in wahrhaft demokratischer Weise diene. Die Presse analysierte die Situation mit industriellen Komputern und geizte nicht mit kleinen Andeutungen über das zu erwartende Ergebnis. Kommentatoren und Leitartikler versuchten mit scharfsinnigen Argumenten den Bundesstaat und den Bezirk zu bestimmen, auf den diesmal die Entscheidung fallen würde.
Der erste Wink, daß es nicht wie jedes andere Jahr sein würde, kam, als Sarah Muller am Abend des 4. Oktober, genau einen Monat vor dem Wahltag, zu ihrem Mann sagte: „Cantwell Johnson behauptet, daß es diesmal Indiana sein wird. Er ist schon der vierte, der das sagt. Stell dir vor: unser Staat soll es sein.“
Matthew Hortenweiler ließ sein fleischiges Gesicht hinter der Zeitung sehen, blickte seine Tochter mißbilligend an und knurrte: „Diese Burschen werden dafür bezahlt, daß sie Lügen in die Welt setzen. Hör nicht auf sie.“
Linda, die ihr kleines Gesicht mit dem spitzen Kinn von einem Sprecher zum anderen gewandt hatte, fragte mit piepsiger Stimme: „Wirst du dieses Jahr wählen, Papa?“ Norman lächelte nachsichtig und sagte: „Ich glaube nicht, mein liebes Kind.“
Sarah, die schon ein wenig von der wachsenden Erregung angesteckt war, die den Präsidentschaftswahlen vorauszugehen pflegte, führte ein ruhiges Leben, worin Tagträume eine große Rolle spielten. Sie sagte sehnsüchtig: „Wäre das nicht wunderbar?“
„Wenn ich wählen würde?“ Norman Muller hatte einen kleinen blonden Schnurrbart, der ihm in den Augen der jungen Sarah ein gutmütiges und freundliches Aussehen verliehen hatte, nun aber zu ergrauen begann und zum Symbol mangelnder Persönlichkeit geworden war. Seine Stirn war von tiefen Linien der Unsicherheit gefurcht, und er hatte seine arme Angestelltenseele nie mit dem Gedanken verführt, daß er zu etwas Großem geboren sei oder es unter irgendwie gearteten Umständen zu Größe bringen würde. Er hatte eine Frau, eine kleine Tochter und einen Arbeitsplatz und war außer in Zeiten ungewöhnlicher Depressionen geneigt, dies als ein angemessenes Schicksal zu betrachten. So fühlte er sich ein wenig verlegen und unbehaglich über die Richtung, die Sarahs Gedanken nahmen. „Unser Land hat zweihundert Millionen Einwohner, Sarah“, erinnerte er sie. „Da ist die Wahrscheinlichkeit so gering, daß wir unsere Zeit nicht mit müßigen Spekulationen verschwenden sollten.“
***
Am 20. Oktober verkündete Sarah, daß Mrs. Schultz, deren Kusine Sekretärin eines Kongreßabgeordneten war, gesagt habe, alle maßgebenden Leute tippten auf Indiana. „Sie behauptet sogar, daß Präsident Villers in Indianapolis eine Rede halten wird.“ Norman Muller, der einen harten Tag im Geschäft hinter sich hatte, beschränkte sich darauf, die Augenbrauen hochzuziehen.
Matthew Hortenweiler, der mit der Politik Washingtons ständig unzufrieden war, sagte bissig: „Wenn Villers in unserem Staat eine Rede hält, bedeutet es, daß er glaubt, Multivac wird sich für Arizona entscheiden.“
Sarah, die ihren Vater ignorierte, wann immer es möglich war, sagte: „Ich weiß nicht, warum sie den Staat, den Bezirk und die Stadt nicht früher bekanntgeben.“ – „Wenn sie so etwas täten“, entgegnete Norman, „würden die Politiker wie Aasgeier ausschwärmen. Sobald der Name der Stadt bekannt wäre, hätten wir an jeder Straßenecke einen oder zwei Abgeordnete stehen.“
Matthew kniff die Augen zusammen und strich sich ärgerlich über sein spärliches graues Haar. „Sie sind Aasgeier, da hast du recht. Ich will euch …“
„Aber, aber Vater!“ murmelte Sarah.
Matthews polternde Stimme erstickte ihren Protest. „Ich will euch mal was sagen. Ich war dabei, als sie Multivac aufstellten. Es wäre das Ende der politischen Intrigen, sagten sie. Es wäre nicht mehr nötig, Steuergelder für den Wahlkampf auszugeben. Es würden keine grinsenden Schulterklopfer und Gauner mehr in den Kongreß oder gar ins Weiße Haus geschoben werden. Und was geschieht? Der Wahlkampf ist verrückter als je zuvor, nur führen sie ihn jetzt blind drauflos. Ich sage, man sollte mit diesem Blödsinn Schluß machen. Zurück zu den guten alten …“
„Willst du nicht, daß Papa dieses Jahr wählt, Opa?“ fragte Linda plötzlich.
Matthew funkelte das Kind an. „Du redest, wenn du gefragt wirst, verstanden?“ Er wandte sich wieder an Sarah und Norman. „Ich habe einmal gewählt. Bin einfach in die Wahlkabine marschiert und habe den Hebel der Partei heruntergedrückt, die ich wählen wollte. Es war gar nichts dabei. Ich sagte mir nur: Dieser Bursche vertritt meine Interessen als Arbeiter, und ich wähle ihn. Fertig. So sollte es sein.“ – „Du hast gewählt?“ fragte Linda aufgeregt. „Wirklich, Opa?“
Sarah beugte sich rasch vor, um zu verhindern, was leicht zu einer unpassenden Geschichte werden konnte, die man in der Nachbarschaft herumerzählte. „Es ist nichts, Linda. Dein Großvater meint damit nicht, daß er wirklich gewählt hat. Damals hat jeder diese Art Wahl mitgemacht, aber es war ganz anders als heutzutage.“
„Im Gegenteil!“ brüllte Matthew. „Ich war zweiundzwanzig und stimmte für Langley, und es war eine richtige Wahl. Vielleicht hat meine Stimme nicht viel ausgemacht, aber sie war so gut wie jede andere. Und kein Multivac, der alles …“
„Es ist Zeit, daß du ins Bett kommst, Linda“, unterbrach Norman. „Und hör endlich mit dieser ewigen Fragerei auf. Wenn du groß bist, wirst du das alles verstehen.“
Er küßte sie auf die Stirn, und sie entfernte sich widerwillig und unter mütterlichem Drängen.
***
Linda sagte leise: „Opa?“ und blieb mit ihren Händen auf dem Rücken vor ihm stehen, bis sich seine Zeitung so weit senkte, daß sie buschige Augenbrauen und von Runzeln umgebene Augen sehen konnte. Es war Freitag, der 31. Oktober.
„Ja?“ knurrte er.
Linda kam näher und legte beide Arme auf die Knie des alten Mannes, daß er seine Zeitung weglegen mußte. „Opa, hast du wirklich einmal gewählt?“
Matthew betrachtete seine Enkelin ernst, dann hob er sie auf und setzte sie auf seine Knie. In belehrendem Tonfall begann er: „Siehst du, Linda, bis vor vierzig Jahren hat jeder gewählt. Angenommen, wir mußten uns entscheiden, wer der neue Präsident der Vereinigten Staaten werden sollte. Jede Partei stellte einen Kandidaten auf. Wenn der Wahltag vorbei war, wurde gezählt, wie viele Leute den einen oder den anderen als Präsidenten wollten. Wer die meisten Stimmen bekommen hatte, war gewählt. Verstehst du das?“
Linda nickte. „Aber woher wußten die Leute, wen sie wählen sollten? Hat Multivac es ihnen gesagt?“
Matthews Augenbrauen zogen sich zusammen. „Nein. Sie haben sich einfach auf ihr eigenes Urteil verlassen, Kind. Natürlich ging es nicht so schnell, bis alle Stimmen gezählt waren. Manchmal dauerte es zwei Tage, bis man wußte, wer gewählt war, und die Leute waren ungeduldig. Also erfanden sie Maschinen, die die ersten Stimmen zählten und sie mit den Ergebnissen der früheren Wahlen verglichen. So konnten die Maschinen ausrechnen, wie die Wahl ausgehen und wer gewählt werden würde. Siehst du?“
Sie nickte wieder. „Wie Multivac.“
„Die ersten Computer waren viel kleiner als Multivac. Aber die Maschinen wurden immer größer und perfekter und brauchten immer weniger Stimmen, um den Wahlausgang vorherzusagen. Zuletzt bauten sie dann Multivac, und dieser Maschine genügt schon ein einziger Wähler.“
Linda lächelte, weil ihr dieser Teil der Geschichte vertraut war. „Das ist schön.“
„Nein, das ist nicht schön“, sagte Matthew verdrießlich. „Ich will nicht, daß mir eine Maschine sagt, wie ich gewählt haben würde, nur weil irgendein Kandidat behauptet, er sei gegen höhere Tarife. Vielleicht will ich trotzdem einen anderen wählen. Vielleicht will ich überhaupt nicht wählen. Vielleicht …“
Aber Linda hatte sich von seinen Knien geschoben und lief davon.
Wie sich herausstellte, blieb nur sehr wenig Zeit zum Abwarten, denn bald darauf läutete es, und als Norman Muller die Tür öffnete, sah er sich einem großen Mann mit ernstem Gesicht gegenüber. „Sind Sie Norman Muller?“
Norman bejahte mit tonloser Stimme. Es war leicht zu sehen, daß das Gebaren des Fremden Autorität besaß, und die Art seiner Mission war auf einmal so unausweichlich klar, daß es Norman Muller die Sprache verschlug. Der Mann präsentierte ihm Ausweise und ein Beglaubigungsschreiben, trat ein, schloß die Tür hinter sich und sagte feierlich: „Mr. Norman Muller, ich habe die Aufgabe, Sie im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten davon zu unterrichten, daß Sie ausersehen sind, am Dienstag dem 4. November, die amerikanische Wählerschaft zu vertreten.“
Mit Mühe gelang es Norman Muller, ohne fremde Hilfe einen Stuhl zu erreichen. Er setzte sich mit bleichem Gesicht und fast von Sinnen, während Sarah ein Glas Wasser brachte, seine Hände tätschelte und zwischen zusammengepreßten Zähnen murmelte: „Reiß dich zusammen, Norman. Nicht schwach werden! Sonst nehmen sie einen anderen.“
Sobald Norman sprechen konnte, flüsterte er: „Es tut mir leid, Sir.“
Der Geheimdienstmann hatte seinen Mantel abgelegt, knöpfte seine Jacke auf und machte es sich auf dem Sofa bequem.
„Es ist nicht weiter schlimm“, erklärte er begütigend. „Keiner hat sich so benommen, wie man es auf dem Fernsehschirm sieht. Sie wissen, was ich meine? So ein ergebener Blick und ein Bursche, der voller Inbrunst sagt: ‚Ich betrachte es als eine große Ehre, meinem Land dienen zu dürfen‘.“ Der Agent lachte glucksend. Sarah stimmte in sein Lachen ein, aber ihre Stimme klang ein wenig hysterisch.
Der Agent sagte: „Sie werden mich jetzt eine Weile bei sich haben. Ich heiße Phil Handley. Mr. Muller darf das Haus bis zum Wahltag nicht verlassen. Sie werden bei seiner Firma anrufen müssen und sagen, daß er erkrankt ist, Mrs. Muller. Im übrigen können Sie einstweilen Ihren Pflichten nachgehen, aber Sie müssen strengstes Stillschweigen bewahren. Ist das klar, Mrs. Muller?“
Sarah nickte heftig. „Ja, Sir. Ich werde kein Wort sagen.“
„Gut. Aber Mrs. Muller, dies ist kein Spaß.“ Handleys Miene wurde ernst. „Gehen Sie nur hinaus, wenn es sein muß. Man wird Sie bei Ihren Einkäufen unauffällig bewachen. Es tut mir leid, aber es ist eine Vorschrift.“
„Anscheinend wissen Sie alles über uns“, flüsterte Norman.
„Eine ganze Menge“, bekräftigte Handley. „Nun, Mr. Muller, der Zweck dieser zweitägigen Vorbereitungszeit ist, Sie an Ihre Aufgabe zu gewöhnen. Wir möchten, daß Sie sich bei der Wahl in einem möglichst ausgeglichenen, normalen Gemütszustand befinden. Entspannen Sie sich und denken Sie einfach, daß dies ein kurzer Urlaub ist. In Ordnung?“
„In Ordnung“, sagte Muller schwächlich. Dann schüttelte er heftig seinen Kopf. „Aber ich will die Verantwortung nicht tragen. Warum ausgerechnet ich?“
„Ich will versuchen, Ihnen das zu erklären“, sagte Handley geduldig. „Multivac wägt alle bekannten Faktoren ab, Millionen, vielleicht Milliarden. Ein Faktor allerdings ist nicht bekannt, und das ist das menschliche Gehirn mit seinen Reaktionen. Alle Amerikaner unterliegen dem prägenden Druck dessen, was andere Amerikaner denken und tun und sagen, ganz zu schweigen von der Werbung und anderen Beeinflussungen. Jeder Amerikaner kann vom Multivac untersucht werden, aber einige sind besser dafür geeignet als andere. Multivac hat Sie als die am meisten dem Durchschnittsamerikaner entsprechende Person dieses Jahres ermittelt. Nicht als die klügste oder stärkste oder glücklichste, sondern als die am meisten typische Person. An der Richtigkeit von Multivacs Ermittlung gibt es keinen Zweifel, darüber sind wir uns wohl einig, nicht?“
„Könnte Multivac nicht auch einmal einen Fehler machen?“ fragte Norman.
Sarah, die ungeduldig gelauscht hatte, unterbrach sofort. „Hören Sie nicht auf ihn, Mr. Handley. Er ist nur nervös, wissen Sie. Er ist sehr belesen und verfolgt die Politik äußerst aufmerksam.“
„Multivac trifft die Entscheidungen, Mrs. Muller“, sagte Handley. „Der Komputer hat Ihren Mann ausgewählt.“
Norman vergrub sein Gesicht in den Händen und saß reglos.
„Morgen früh“, sagte Sarah zuversichtlich, „wird er vollkommen in Ordnung sein. Er muß sich erst daran gewöhnen, das ist alles.“
***
Am 3. November wurde die Entscheidung bekanntgegeben, und nun war es für Norman zu spät, den Rückzug anzutreten, selbst wenn er den Mut zu einem Versuch aufgebracht hätte.
Das Haus wurde von der Außenwelt abgeriegelt. Die Geheimdienstbeamten traten jetzt offen in Erscheinung und wiesen alle Besucher und Neugierigen ab. Norman sah mit Erleichterung, daß ihm auf diese Weise nicht nur die erfreuten und neidischen Glückwünsche der Freunde und Bekannten erspart blieben, sondern auch die Annäherungsversuche von Vertretern und Politikern … Vielleicht sogar Todesdrohungen von irgendwelchen Wirrköpfen.
Um jede Beeinflussung auszuschalten, wurden keine Zeitungen ins Haus gelassen. Trotz Lindas lauter Proteste unterbrach Handley die Stromzufuhr des Fernsehapparates.
Matthew knurrte und fluchte und blieb in seinem Zimmer. Linda vergaß bald ihre anfängliche Begeisterung und schmollte und jammerte, weil sie nicht zum Spielen hinaus durfte. Sarah verbrachte alle Zeit, die sie nicht für die Vorbereitung der Mahlzeiten aufwenden mußte, mit Zukunftsplänen. Und Normans Depression nährte sich aus sich selbst.
Dann kam endlich der Morgen des 4. November 2008, und es war Wahltag.
Norman Muller aß sein Frühstück mechanisch und ohne Appetit. Handleys freundliche Stimme tat ihr Bestes, dem grauen und freudlosen Morgen ein etwas angenehmeres Aussehen zu verleihen. Norman trank zwei Tassen schwarzen Kaffee, wischte sich den Mund, stand auf und sagte mit unsicherer Stimme: „Ich bin fertig.“
Handley erhob sich rasch. „Sehr schön. Und Ihnen, Mrs. Muller, danke ich sehr für Ihre Gastfreundschaft.“
Der gepanzerte Wagen schnurrte durch verlassene Straßen. Sie waren menschenleer, obwohl dies die Stunde war, wo die meisten Leute zur Arbeit fuhren. Handley sah Normans Verwunderung und bemerkte: „Die Zufahrtsstraßen werden verkehrsfrei gehalten, um etwaigen Attentatsversuchen vorzubeugen.“
Als der Wagen anhielt, führte Handley seinen Schützling durch eine unterirdische Passage, deren Wände von Soldaten mit präsentierten Gewehren gesäumt waren. Norman wurde in einen hell erleuchteten Raum geführt, wo ihn drei weiß uniformierte Männer lächelnd begrüßten. „Aber das ist doch das Krankenhaus“, sagte Norman argwöhnisch.
„Das hat nichts zu bedeuten“, erwiderte Handley. „Das Krankenhaus verfügt über die nötigen Räumlichkeiten und Einrichtungen, das ist alles.“
„Gut; was habe ich zu tun?“
Handley nickte. Einer der drei Männer trat näher und sagte: „Alles Weitere übernehme ich, Mr. Handley.“
Handley salutierte nachlässig und verließ den Raum.
Der Mann in Weiß wandte sich an Norman: „Wollen Sie sich nicht setzen, Mr. Muller? Ich bin John Paulson, der Chefprogrammierer. Dies sind Samson Levine und Peter Dorogobush, meine Assistenten.“
Samson schüttelte ihnen mechanisch die Hände. Paulson war ein mittelgroßer Mann mit einem weichen, stets lächelnden Gesicht. Er trug eine altmodisch geformte Brille und zündete sich beim Sprechen eine Zigarette an.
„Zuerst möchte ich Ihnen sagen, Mr. Muller, daß wir keine Eile haben …“
„Es ist schon gut“, antwortete Norman. „Es wäre mir lieb, wenn ich es bald hinter mich bringen könnte.“
„Ich verstehe Ihre Gefühle. Aber wir möchten Ihnen doch genauer erklären, was überhaupt vorgeht. Zuerst einmal muß ich Sie enttäuschen: Multivac ist nicht hier.“
„Nicht hier?“ Trotz aller Depressionen hatte er irgendwie mit der Hoffnung gelebt, Multivac zu sehen. Man sagte, der Komputer wäre einige hundert Meter lang und drei Stockwerke hoch. Und fünfzig Techniker wären ständig in den Korridoren innerhalb der Maschine unterwegs. Man pries Multivac als ein modernes Weltwunder.
Paulson lächelte. „Nein. Er ist nicht transportabel, müssen Sie wissen. Er ist unterirdisch aufgestellt, und tatsächlich wissen nur sehr wenige Menschen, wo er sich befindet. Sie werden auch das verstehen, denn er ist eine unserer wichtigsten Errungenschaften und entsprechend wertvoll. Glauben Sie mir, die Wahlen machen nur den geringsten Teil seiner Arbeitsleistung aus.“
„Ich dachte, ich würde ihn sehen“, sagte Norman. „Er würde mich interessieren.“
„Das kann ich mir denken, Mr. Muller. Aber dazu bedürfte es einer Genehmigung des Weißen Hauses, und die müßte noch vom Staatssicherheitsdienst gegengezeichnet werden. Aber wir stehen von hier aus drahtlos mit Multivac in Verbindung. Was Multivac sagt, kann hier interpretiert werden, was wir sagen, wird unmittelbar Multivac zugeleitet. Man könnte also mit einigem Recht sagen, daß er hier ist.“
Norman sah sich im Raum um. Die aufgestellten Apparate und Vorrichtungen sagten ihm nichts.
„Nun lassen Sie mich erklären“, fuhr Paulson fort. „Multivac hat bereits die meisten Informationen, die er benötigt, um alle Wahlen zu entscheiden, nationale, bundesstaatliche und lokale. Er benötigt nur noch gewisse unerrechenbare Einzelheiten, die er von Ihnen bekommen wird. Wir können nicht voraussagen, welche Fragen Ihnen Multivac stellen wird, aber es kann gut sein, daß sie weder Ihnen noch uns sinnvoll erscheinen werden. Verstehen Sie mich?“
„Ja, Sir.“
„Wie immer die Fragen sein mögen, beantworten Sie sie mit Ihren eigenen Worten und auf jede Weise, die Ihnen gefällt. Wenn Sie glauben, etwas erklären zu müssen, tun Sie es. Wenn nötig, können Sie eine Stunde lang sprechen.“
„Ja, Sir.“
„Noch etwas. Wir werden einige einfache medizinische Kontrollen durchführen, die während Ihrer Antworten Ihren Blutdruck, Ihren Herzschlag, die Leitfähigkeit Ihrer Haut und Ihre Gehirntätigkeit zu untersuchen haben. Die dazu nötige Maschinerie wird Ihnen etwas unheimlich erscheinen, aber es ist alles absolut schmerzlos. Sie werden es nicht einmal spüren.“
Die beiden anderen Techniker beschäftigten sich bereits mit verschiedenen glatten, schimmernden Apparaten.
„Soll damit geprüft werden, ob ich lüge oder nicht?“ fragte Norman mißtrauisch.
„Keineswegs, Mr. Muller. Mit einem Lügendetektor hat dies nicht das Geringste zu tun. Es soll nur die Intensität Ihrer Emotionen gemessen werden. Wenn Sie nach Ihrer Meinung über die Schule Ihrer Tochter gefragt werden, könnten Sie vielleicht sagen: ‚lch finde, daß sie überfüllt ist.‘ Das sind nur Worte. Aber aus der Art und Weise, wie Ihr Gehirn und Herz und Ihre Schweißdrüsen reagieren, kann Multivac genau errechnen, wie stark Ihre Empfindungen in dieser Angelegenheit sind. Er wird Ihre Gefühle besser verstehen und beurteilen können als Sie selbst.“
„Von so etwas habe ich noch nie gehört“, sagte Norman.
„Nein, das ist auch verständlich. Die meisten Details über Multivacs Arbeitsweise unterliegen strengster Geheimhaltung. Bevor Sie gehen, werden Sie eine eidesstattliche Erklärung zu unterzeichnen haben, in der Sie sich verpflichten, niemals die Natur der Fragen weiterzuerzählen, die Ihnen gestellt worden sind. Dasselbe gilt für Ihre Antworten und die mit dem Wahlvorgang verbundenen technischen Vorbereitungen. Je weniger man über Multivac weiß, desto geringer ist die Gefahr, daß das Bedienungspersonal beeinflußt oder irgendeinem Druck von außen ausgesetzt wird.“ Er lächelte grimmig. „Unser Leben ist ohnedies schon hart genug.“
Norman nickte. „Ich verstehe.“
„Dann sagen Sie uns bitte, wann wir anfangen können.“ – „Ich bin bereit.“ „Sind Sie sicher?“ – „Ziemlich.“
Paulson nickte und gab den anderen ein Zeichen. Sie näherten sich mit Kabeln und furchterregenden Kontaktbandagen, und Norman Muller fühlte, wie ihm vom bloßen Zusehen der Schweiß ausbrach.
Die Prozedur dauerte fast drei Stunden, unterbrochen von einer kurzen Kaffeepause und einer überaus peinlichen Sitzung auf einem Nachttopf. Während dieser Zeit blieb Norman Muller von Kabeln und Apparaten eingeschlossen. Zuletzt war er todmüde und dem Zusammenbrechen nahe. Mit kläglichem Lächeln dachte er, daß es ihm leichtfallen würde, sein Versprechen zu halten. Schon jetzt waren die Fragen und Antworten in seinem Kopf zu einem nebelhaften Mischmasch zusammengeflossen.
Irgendwie hatte er sich vorgestellt, daß Multivac in einer übernatürlichen, hallenden Stimme wie aus einem Grab sprechen würde. Die Wirklichkeit war enttäuschend undramatisch. Die Fragen bestanden aus Streifen gestanzter Metallfolie. Eine im Raum aufgestellte Maschine übersetzte die Lochstreifen in geschriebene Worte, die ihm von Paulson vorgelesen wurden, bevor er sie ihm gab und ihn selbst lesen ließ.
Normans Antworten wurden von einem Tonbandgerät aufgenommen, auf einen automatischen Schnellschreiber übertragen und in Lochstreifen verwandelt, mit denen wiederum die Sendeanlage gefüttert wurde. Die einzige Frage, an die sich Norman im Moment erinnern konnte, war eine lächerlich bedeutungslose, wenn er sie mit dem Zweck der ganzen Operation verglich: „Was halten Sie vom Eierpreis?“
Dann war es vorbei, und die beiden Assistenten entfernten die Elektroden von seinen verschiedenen Körperteilen und schoben die Meßapparate zur Seite. Sie geleiteten ihn in ein benachbartes Zimmer. Norman ließ sich in einen plastikbezogenen Sessel sinken und schloß die Augen.
Er saß ganz still, und langsam ließ die Spannung in ihm nach. Vielleicht würde es keine neuen Fragen geben. Vielleicht ließ man ihn bald nach Hause gehen. Norman wußte aber auch, daß es dann erst richtig losgehen würde. Er war der Wähler des Jahres. Es würde Einladungen zu allen möglichen Zusammenkünften hageln, auf denen er zu sprechen hatte.
Er, Norman Muller, gewöhnlicher Angestellter eines kleinen Ladens in Bloomington, Indiana, der weder zu etwas Großem geboren war noch danach drängte, sah sich auf einmal in der außergewöhnlichen Lage, mit der ihm aufgezwungenen Berühmtheit fertigzuwerden. Die Historiker würden nüchtern von der Muller-Wahl 2008 sprechen.
Ein unvermuteter Patriotismus begann sich in ihm zu regen. Schließlich repräsentierte er die gesamte Wählerschaft. Er war ihr Brennpunkt. An diesem Tag verkörperte er die gesamte Nation!
Die Tür ging auf, und er riß erschrocken die Augen auf. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Aber Paulson lächelte breit: „Alles klar. Man wird Sie jetzt nach Hause bringen, und dann werden Sie wieder ein Privatmann sein dürfen. Wenigstens, soweit es die Öffentlichkeit erlaubt.“
Norman errötete:„Ich hätte gern gewußt, wer nun eigentlich gewählt worden ist?“
Paulson schüttelte den Kopf. „Damit werden Sie sich bis zur offiziellen Verlautbarung gedulden müssen. Die Vorschriften sind da sehr streng. Nicht einmal Ihnen dürfen wir etwas sagen. Ich hoffe, Sie verstehen das.“
„Ja, natürlich.“ Norman war verlegen.
„Der Geheimdienst hat die nötigen Papiere zur Unterschrift bereit, Mr. Muller.“
„Ja.“ Plötzlich fühlte sich Norman Muller wichtig und stolz, in dieser unvollkommenen Welt hatten die souveränen Bürger der ersten elektronischen Demokratie durch ihn, Norman Muller, wieder einmal frei und ungehindert ihr Wahlrecht ausgeübt.
Originaltitel: „Franchise“, Deutsch von Heinz Nagel, erschienen in: „Die Rückkehr zur Erde“, Heyne, 1982. Gekürzt von Arno Frank