: Keiner ist perfekt
Bei der „vorurteilsbewussten“ Erziehung geht es darum, Kinder in ihrer Vielfalt anzuerkennen und gleichzeitig darauf zu achten, dass die Unterschiede nicht zu Ausgrenzungen führen. Denn die Wahrnehmung, nicht „richtig“ zu sein, macht Kinder ängstlich
Die Tübinger Professoren Albert Biesinger (Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät) und Friedrich Schweitzer (Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät) betreiben ein Forschungsprojekt zu Religion und Religionen in deutschen Kindertagesstätten: „Interkulturelles und interreligiöses Lernen in Kindertagesstätten“. In diesem Projekt wird insbesondere die interreligiöse Praxis vor allem in Ballungsgebieten in Deutschland untersucht. „Die Befunde der Pilotstudie zeigen“, so die beiden Forscher, „dass sich die größte Herausforderung auf den Islam bezieht“. Dies spiegle sich mittlerweile auch quantitativ wider: Bereits ein Fünftel aller Kinder, die in Großstädten eine Kindertagesstätte besuchen, kommen aus einer muslimischen Familie.
VON MARTIN KALUZA
Alexandra Achterberg und ihre KollegInnen in der Kita Cuvrystraße hatten das Gefühl, sie drehten sich im Kreis. Die PädagogInnen der Kindertagesstätte hatten schon eine Reihe von Fortbildungen durchlaufen, aber ein Problem bekamen sie partout nicht in den Griff: „Wir kamen nicht an die Eltern der Kinder heran. Wir fragten uns, ob sie wirklich nichts von uns wissen wollten“, sagt Achterberg.
Die Eltern, das muss man dazu wissen, waren fast durchweg ausländischer Herkunft. „Mit der Zeit stellten wir jedoch fest, dass die Eltern das umgekehrt auch von uns glaubten. Sie dachten, sie sollten ihre Kinder in der Einrichtung abgeben und selbst draußen bleiben“, sagt Achterberg.
Die Wende kam nach einer weiteren Fortbildung. Achterberg und ihre Kollegen begannen den Eltern immer wieder Fragen zu stellen und die Elternabende lockerer zu gestalten. Statt den Eltern mitzuteilen, dass zu viele Süßigkeiten für die Kinder ungesund seien, erkundigten sie sich, was es mit dem Zuckerfest auf sich hat. Sie wollten wissen, was dagegen spricht, wenn die Kinder an Ausflügen und Schwimmbadbesuchen teilnehmen. „Wir wollten alles wissen“, sagt Achterberg. Die überraschende Folge: Die Eltern fühlten sich ernst genommen und öffneten sich. „Am Anfang fehlte das Vertrauen. Sobald das aber da war, durften die Kinder eigentlich auch alles mitmachen“, erinnert sich Achterberg.
Die Kita in der Cuvrystraße wurde inzwischen aus baulichen Gründen geschlossen. Seit einem Jahr ist Achterberg stellvertretende Leiterin einer Kita um die Ecke in der Reichenberger Straße. Die Voraussetzungen sind aber ähnlich: Die meisten der 86 Kinder haben Türkisch oder Arabisch als Muttersprache und lernen Deutsch als zweite Sprache. Achterbergs Tagesstätte ist eine von 16 in Berlin, die sich derzeit den pädagogischen Ansatz der „vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung“ zu eigen machen – das ist die Übersetzung des englischen Begriffspaares „anti bias“.
Im Prinzip geht es bei der vorurteilsbewussten Erziehung darum, Menschen in ihrer Vielfalt anzuerkennen und gleichzeitig darauf zu achten, dass die Unterschiede nicht zu Ausgrenzungen führen. Das klingt nach einem Allgemeinplatz, geschieht aber selten. Dahinter steckt jedoch die Erfahrung, dass es wenig hilfreich ist, Kindern beispielsweise verschiedene Kulturen auf eine allzu „touristische“ Art zu vermitteln. „Afrikanische Tage in Kitas sind zwar gut gemeint, aber inzwischen weiß man, dass solche Aktionen die Vorurteile bei Kindern eher noch festigen“, erklärt Petra Wagner. „Afrika ist dann eben das Land, in dem immer getrommelt wird.“
Die Pädagogin Petra Wagner leitet seit 2000 das Projekt Kinderwelten im Institut für den Situationsansatz, das zur Freien Universität Berlin gehört und Fortbildungen für PädagogInnen nach dem vorurteilsbewussten Konzept durchführt. Zu diesem Ansatz gehört nicht allein, die Bücher- und die Spielecke daraufhin durchzusehen, ob hier bestimmte Rollenbilder und Klischees bedient werden.
Ein wichtiger Bestandteil des Ansatzes ist, dass die ErzieherInnen ihren Umgang mit Kindern und Eltern auf Herabwürdigungen hin überprüfen und auch auf Hänseleien unter den Kindern achten. Wagner erklärt, dass das ein prinzipielles Umdenken bedeutet: Lange sei es üblich gewesen, so wenig wie möglich in die Streitigkeiten der Kinder einzugreifen. Denn so sollten sie lernten, sich selbst zu behaupten. Das sei jedoch bei ausgrenzenden und diskriminierenden Vorkommnissen, so Wagner, der falsche Weg.
Wenn beispielsweise Jungs Mädchen erklärten, sie seien weniger wert, oder wenn ein Kind wegen seiner Hautfarbe von einem Spiel ausgeschlossen werde, müssten Erwachsene eingreifen. „Kinder lernen früh, wie die Gesellschaft funktioniert. Wenn Erwachsene Hänseleien geschehen lassen, lernen Kinder: Hier wird man davor nicht geschützt, von den Erwachsenen ist keine Hilfe zu erwarten“, sagt Wagner. Und schlimmer noch: Wenn ein Kind von anderen hört, es könne noch nicht in die Vorschule, weil es nicht richtig Deutsch spreche, ohne dass diesen Vorurteilen widersprochen wird, glaubt es das selbst irgendwann.
Ohnehin warnt Wagner davor, Kinder in ihren Deutschkenntnissen perfektionistischen Ansprüchen zu unterwerfen oder zur Einsprachigkeit zwingen zu wollen. Die Wahrnehmung, nicht „richtig“ zu sein, mache insbesondere junge Kinder ängstlich und zurückhaltend. Kinder müssten hingegen signalisiert bekommen: Ich kann bereits etwas und ich kann hier noch einiges hinzulernen!
Internet: www.kinderwelten.net
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