: Von der List der postkolonialen Vernunft
Die Welt wird westlicher, der Westen orientalisierter: Beat Wyss stellte seine Theorie der Kreolisierung vor
Als der in Karlsruhe lehrende Schweizer Kunsthistoriker und Medientheoretiker Beat Wyss am Dienstagabend seinen Vortrag über „die Identität des Anderen“ im Potsdamer Einstein Forum beendet hatte, konnte man eine vielleicht frohe Botschaft mit nach Haus nehmen. Man darf in der Kunstwissenschaft wieder von Dialektik und damit von Hegel reden, ohne sich schamvoll vor eventuell anwesenden Vertretern einer rein technischen 08/15-Medientheorie wegducken zu müssen. Der Prozess der Globalisierung sei ein dialektischer, sagte Wyss in seiner zentralen These, mit der Verwestlichung der Welt gehe eine Orientalisierung des Westens einher. Oder um es philosophischer zu sagen: Die Globalisierung verringert die Distanz zwischen den verschiedenen Weltorten und macht damit erst die Differenzen sichtbar. Am Ende der Distanz, an ihrem Nullpunkt beginnt die Differenz.
Was in Wyss’ Zusammenfassung abstrakt wirkt, hatte er vorher denkbar plastisch, um nicht zu sagen: pragmatisch hergeleitet. Den Ort, an dem der Abbau der räumlichen Distanzen beginnt, bilden für Wyss die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts und hier im Besonderen die Weltausstellung 1889 in Paris. 54 Nationen und 17 französische Kolonien hatten die Welt in Paris auf die Strecke zwischen Trocadero und Champ de Mars zusammenschrumpfen lassen. 32 Millionen Besucher zählte die Ausstellung, und sie brachte einen Gewinn von damals unglaublichen 8 Millionen Franc. Zu den Ausstellungsstücken gehörten eine Art Auto von Carl Benz, die ersten Fahrräder heutigen Typs sowie die Kohlefaden-Glühlampe und der Phonographenstand von Thomas Alpha Edison. Elektrizität, die sich in bisher nicht gedachter Geschwindigkeit ausbreitete, war das gewollte Thema des Pariser Ereignisses.
Zur Hundertjahrfeier der Französischen Revolution sollte die aus der Aufklärung hervorgehende Technik die Überlegenheit der Republik Frankreich aller Welt demonstrieren. Das passt so weit in die Vormachtsvorstellungen der westlichen Industrienationen in der Hoch-Zeit des Kolonialismus. Für den Hegelianer Wyss beginnt aber in Paris auch die gegenstrebige Bewegung: die List der postkolonialen Vernunft. Die Kolonisierten traten nämlich in Paris weder ohne Gedächtnis noch ohne Exponate auf. Die Publikumsattraktionen waren die Essstände aus aller Welt, von Marokko bis Südamerika. Weltläufig war, wer einen starken Magen hatte. Die Einverleibung des Anderen über den Konsum exotischen Essens nennt Wyss „kulturellen Kannibalismus“ und er konnte diese Kulturtechnik der Einverleibung bis in den Stilkannibalismus der Architektur, etwa der orientalischen Verzierungen am Kinderpavillon der Weltausstellung, nachweisen.
Für Wyss wird so bereits in der Zeit der Weltausstellungen die Kultur der europäischen Kolonialstaaten einer allmählichen „Kreolisierung“ unterzogen. Kreolisierung – ein Begriff, der ursprünglich für die Mischkulturen der spanisch- und portugiesischsprachigen Kolonien erfunden wurde – steht dabei für das Eindringen kultureller Praktiken der Kolonisierten in den Alltag der Kolonialherren.
Auf der anderen Seite aber eignen sich auch die Kolonisierten Praktiken und Theorien der sie beherrschenden Mächte an und können sie auch gegen den Muff der westlichen Kolonialherren wenden. Für Wyss folgt daraus für heute nicht weniger, als dass Künstler aus Afrika oder Indien oft einen geschärfteren Blick auf die Probleme der globalisierten Zeit haben. Wyss hatte das am Anfang eindringlich an einer Installation des afrikanischen Künstlers Georges Adéagbo aus dem Jahre 2002, die im Kölner Museum Ludwig zu sehen ist, gezeigt.
Die Arbeit versammelt ein geordnetes Gewimmel aus Fundstücken aus Afrika und Europa, Büchern, einem Porträt des Documenta-Kurators Harald Szeemann, gemalt von einem afrikanischen Straßenmaler, in der Mitte eine DDR-Fahne. Womit irgendwie auch der große Abwesende des Abends zumindest angedeutet wurde: Er heißt Karl Marx. Und wenn Wyss jetzt noch den Schritt von Hegel zum Abwesenden nachvollzieht, kann seine Theorie der Kreolisierung nur gewinnen. CORD RIECHELMANN