jazzkolumne : Das Jahr 2008 im Jazz
Die interessantesten Platten des Jahres kamen von Vijay Iyer, Mostly Other People Do The Killing und Bill Dixon
Mit dem Motto seiner aktuellen Quartett-CD „Tragicomic“ bezieht sich der südasiatisch-amerikanische Pianist Vijay Iyer auf schwarze Musikgeschichte: Der Blues konterte mit einer großen heldenhaften Gefühlswelt die grausamen sozialen Bedingungen, unter denen er entstand. Iyer schlägt vor, aus der Kraft des Blues zu lernen, und den Blick trotz und angesichts großer globaler Probleme nach vorn zu richten – das sei die Haltung, aus der seine Musik entsteht. „‚Tragicomic‘ hat kleine kompositorische Einheiten, die innerhalb der Improvisation erkundet werden. Ich habe es hier auf eine Einfachheit abgesehen, die nicht erklärt werden muss und dennoch gut klingt“, berichtet Iyer.
Es geht ihm um einen Sound, der artikuliert, was es für ihn heute heißt, ein Amerikaner zu sein: „Ich meine damit auch meine Position in der aktuellen Auseinandersetzung um amerikanische Identität. ‚Tragicomic‘ bezieht sich auf die Blues-Sensibilität, die schon Amiri Baraka in seinem Buch ‚Blues People‘ vor langer Zeit beschrieben hat. Der Blues entstand, als Menschen, die vorher zum Besitz anderer Menschen gehörten, ihre scheinbare Freiheit erlangten. Ich versuche dieses ästhetische Gefühl in der Gegenwart amerikanischer Politik anzusiedeln. Sie drückt mein Befremden über die vergangenen Jahre und meine Hoffnung auf die Zukunft aus.“
Iyers kammermusikalisch ausgerichtetes Improvisationstrio Fieldwork mit Steve Lehman, Saxofon, und Tyshawn Sorey, Schlagzeug, zählt ebenfalls zu den herausragenden jungen Bands der amerikanischen Szene, das neue Album „Door“ ist bei dem engagierten New Yorker Label Pi Recordings erschienen. Bei Fieldwork ist die gängige Soloabfolge des modernen Jazz zurückgenommen zugunsten eines polyrhythmischen Kollektivsounds – in Wellen und Schleifen bewegt sich die Musik, Titel wie „Cycle 1“ und „Pivot Point“ deuten die philosophische Ausrichtung an. „Der Ausgangspunkt ist die jeweilige Komposition eines Bandmitglieds, doch wir übernehmen sofort zusammen“, sagt Iyer. „Der ständige Energiefluss innerhalb der Band ist das Markenzeichen von Fieldwork. Das Geheimnis der Band liegt in den Proben. Es gibt eine versteckte Ordnung in dieser Musik, an der wir uns orientieren. Man mag sich inmitten einer Situation befinden, die sehr chaotisch klingt, und auf einmal entdeckt man eine unbekannte Ordnung, die den Fluss der Musik strukturiert.“
Ein Paradigmawechsel im Jazz deutet sich derzeit auch mit der New Yorker Szene um den 27-jährigen Trompeter Peter Evans an. Die Kontroversen um Tradition und Avantgarde, um Kanon und Definitionsmacht, die vor zehn Jahren noch die New Yorker Szenen in Wut und Streit trennten, sind passé. Evans nennt Miles Davis und Wynton Marsalis als wichtige Einflüsse und gibt geräuschvolle Konzerte im Kontext der improvisierten Musik. Auf seiner MySpace-Seite kann man das Stück „Andover“ von der Band Mostly Other People Do The Killing (MOPDTK ) hören.
Der Bandname bezieht sich auf Leon Theremin, der in einem Interview mal gesagt haben soll, dass Stalin gar nicht so schlecht war, weil in der Regel andere Leute das Töten übernahmen. Der Bassist Moppa Elliott, der Gründer und Leiter der Band, fand das lustig und so kam es zu dem Namen. „Musikalisch gesehen geht es der Band darum, Jazz auf eine für uns überzeugende Art und Weise zu spielen, das schließt für mich ungewöhnliche Klänge mit ein. Wir lieben es, das Ausgangsmaterial zu zerstören und neu zusammenzusetzen“, berichtet Evans. Auf der gerade erschienen MOPDTK-CD „This Is Our Moosic“ hat das Quartett das Cover der Ornette-Coleman-Platte „This Is Our Music“ von 1960 nachgestellt: Aus der Perspektive des Betrachters links im Bild, wo einst der Trompeter Don Cherry posierte, sieht man nun Evans mit dunkler Sonnenbrille und cherryesker Blickrichtung.
Evans hat verstanden, wovon der afroamerikanische Trompeter Bill Dixon schon vor langer Zeit gesprochen hat: Die Möglichkeiten der Trompete seien noch lange nicht ausgereizt – dem Instrument könne es egal sein, was man mit ihm anstelle, es sei nur ein Stück Metall. Vor zwölf Jahren ging Dixon in den Ruhestand, da war er 71 Jahre alt. Aufnahmen des kompromisslosen Musikers erschienen nur wenige, doch sie beeinflussten viele Menschen. Dixon produziert Klänge, gewaltige und unheimliche, quietschende, gurrende und gurgelnde, lange und laute. Man kann Axel Dörner oder Rob Mazurek fragen: Dixon hat Türen aufgestoßen in eine Welt, die man selbst im fortschrittsgläubigen Jazz nicht gekannt habe. Der Chicagoer Trompeter Mazurek traf Dixon vor einiger Zeit – was er hörte, verglich er mit Schwärmen heiliger weißer Vögel auf dem Flug in die Ewigkeit.
Es gelang ihm, Dixon für das Spiel mit seinem Exploding Star Orchestra zu bewegen, und so erschien nun doch noch eine neue Aufnahme des Visionärs: „Bill Dixon with Exploding Star Orchestra“. In jeder Sekunde des Albums spürt man, dass sie diese Musik machen müssen, dass es für sie nichts anderes gibt. Ein Künstler müsse immer das tun, was er gut könne, sonst habe sein Leben keinen Sinn, sagt Dixon. Die wichtigsten Dinge in seinem Leben seien passiert, als er nichts hatte. Weder er noch seine Kollegen hätten Rücklagen oder Zukunftsaussichten gehabt. Sie hätten immer nur das getan, was sie tun wollten. CHRISTIAN BROECKING
Vijay Iyer: „Tragicomic“ (Sunnyside). Fieldwork: „Door“ (Pi Recording). Mostly Other People Do The Killing: „This Is Our Moosic“ (Hot Cup Records). Bill Dixon with Exploding Star Orchestra“ (Thrill Jockey)