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Archiv-Artikel

Der Tod ist ein Weichzeichner

Ein Rentner erstach Mehmet Aydans Sohn Attila, den HipHopper Maxim. Heute fällt das Gericht sein Urteil. Der Vater trauert – und will sich an Streit nicht mehr erinnern: „Wir haben uns immer geliebt“

Wenn Attila etwas nicht wollte, dann war es, so zu werden wie sein Vater Wenn er vor dem Bild von Attila sitzt, zehrt Mehmet Aydan von den innigen Momenten

VON PLUTONIA PLARRE

Mehmet Aydan ist, was man einen rechtschaffenen Bürger nennt. Der 61-Jährige hat sein Leben lang hart gearbeitet, nie dem Staat auf der Tasche gelegen, er ist nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Lebt nicht auf Pump, geht arbeiten und benehmt euch anständig – in diesem Geist erzog der gebürtige Türke, der zur ersten Einwanderergeneration gehört, auch seine Kinder. „Für uns ist das besonders wichtig, weil wir hier zu Gast sind“, pflegte der alte Herr zu sagen. Seit 40 Jahren lebt er in Deutschland.

Wenn Attila etwas nicht wollte, dann war es, so zu werden wie sein Vater. „Ich werde mich nicht von der Arbeit kaputt machen lassen“, sagte der älteste Sohn von Aydan. Dieser Maxime ist er treu geblieben – bis zu seinem Tod.

Am 13. Juni 2003, dem Tag seines 33. Geburtstages, wurde Attila in Köpenick von einem 76-jährigen Rentner auf der Straße erstochen. Der Mann hatte Attilas deutsche Freundin zuvor in einem Supermarkt zu Unrecht des Ladendiebstahls bezichtigt. Daraufhin hatte Attila den Rentner auf der Straße zur Rede gestellt. Warum der ein Springmesser zog und zustach, will heute das Gericht endgültig klären. Die Anklage lautet auf Totschlag, aber die Staatsanwältin hat bereits Freispruch beantragt. Ein Zeuge und ein Gutachter sagten aus, der Rentner sei mit dem Konflikt überfordert gewesen.

Nach seinem Tod ist über Attila viel in den Zeitungen geschrieben worden. „Mighty Maxim“, wie er sich selbst nannte, war ein Idol der Berliner HipHop-Szene. Der Master of Ceremony und beste Beat Boxer. Einer, der mit dem Mund scratchen konnte. Er galt als Integrationsfigur und Friedensstifter. „Wenn man nachforscht“, schreibt das HipHop-Magazin Backspin, „welche Leute die Geschichte dieser Kultur in der Mauerstadt geprägt haben, kommt man um einen Namen nicht herum: Maxim.“

Der Vater ist gramgebeugt, die Mutter zerstört. Weder Tabletten noch Gespräche mit einem Psychotherapeuten können ihr helfen. Früher war die 54-jährige Ugur Aydan eine lebensbejahende, mutige Frau, die tauchen ging und Fallschirm sprang. Heute würde sie ihrem Dasein am liebsten sofort ein Ende setzen. Das Einzige, was sie daran hindert, sind die Enkelkinder: Attilas zweieinhalbjähriger Sohn und die sechsjährige Tochter von Attilas Schwester, Zarife.

In der Wohnung in Lichterfelde, wo das Ehepaar seit 30 Jahren lebt und Attila aufgewachsen ist, ist der Tote auf Bildern allgegenwärtig. Gekrönt wird das Ensemble von einem Foto im Wohnzimmer nebst einer auf die Wand geschriebenen Widmung, mit der der Vater dem in Istanbul Bestatteten ein Denkmal gesetzt hat.

Der Tod arbeitet als Weichzeichner. Widersprüche und Zwistigkeiten sind plötzlich Legende. Das gilt für Attilas Freunde genauso wie für seinen Vater. So wenig, wie Maxim zeit seines Lebens immer nur der „Peacefreak“ war, so wenig herrschte zu Hause stets nur heile Welt, war Attila ausschließlich der über die Maßen geliebte Sohn. „Unser Verhältnis“, sagt der Vater wieder und wieder, „war sehr, sehr gut. Wir haben uns immer geliebt.“

„Als Ausländer musst du was leisten.“ So hat Mehmet Aydan gelebt. Der 21-jährige Telexschreiber, 10 Finger blind, gehört zu den Pionieren der türkischen Gastarbeiter, als er 1964 von Istanbul ins Sauerland auswanderte. In der Nähe von Augsburg verlegt er als Steinsetzer im Akkord eine zwölf kilometerlange Kopfsteinpflasterstraße – für fünf Mark den Quadratmeter. Aber der Sohn eines Oberkommissars ist nicht nur fleißig, er hat auch eine gute Stimme. In einer selbst gegründeten Kapelle – damals gab es noch keine türkischen Lokale – singt er für seine Landsleute melancholische Lieder und ist bald im ganzen Land bekannt.

Bei einem Auftritt in Heidenheim an der Brenz lernt er im Winter 1968 seine spätere Frau Ugur kennen und lieben. Die bildhübsche Türkin hatte eigentlich nur die Ferien bei ihrer Schwester in Deutschland verbringen wollen. Ugur heiratet Mehmet und bleibt. Er arbeitet mittlerweile in einer Maschinenfabrik. Sie fängt als Hilfskraft bei Hartmanns-Verbandsstoffe an. Im Juni 1970 kommt Attila zur Welt.

Ein halbes Jahr später zieht die Familie nach Berlin. Ein türkisches Lokal in der Potsdamer Straße hat Mehmet als Sänger engagiert. Das Klima in der geteilten Großstadt ist rau, in dem Lokal kommt es oft zu Schlägereien. Ugur arbeitet als Zug-Reinigungsfrau bei der BVG und erfährt, dass die Bahn Leute sucht. Am 26. Mai 1972 wird Mehmet Berlins erster türkischer Zugabfertiger.

Er arbeitet ohne Fehler. Nur einmal fängt er sich eine Rüge ein: als er zu Silvester bei Betriebsschluss auf dem U-Bahnhof Bundesallee die in Richtung Walther-Schreiber-Platz abgehende Bahn mit den Worten verabschiedet: „Der letzte Zug nach Santa Fe.“

Im Februar 1973 wird der zweite Sohn, Hilmi, geboren. Die Eheleute arbeiten im Schichtdienst bei der BVG. Mit zwei kleinen Kindern ist das nicht zu schaffen. Sie bringen den dreijährigen Attila und das Baby zu Ugurs Mutter in die Türkei. Ein halbes Jahr kommt die schreckliche Nachricht: der neun Monate alte Hilmi ist an einer Blutvergiftung gestorben. Ugur und Mehmet holen Attila zurück nach Berlin, sind lange krankgeschrieben und kündigen schließlich bei der BVG. „Wir haben uns furchtbar schuldig gefühlt“, sagt Mehmet.

1974 fängt er in Lichterfelde bei einer Glasfabrik als Dolmetscher und Wohnheimleiter an. Die Familie zieht von Moabit in ein kleines Mietshaus in der Goerzallee um. Auch als die Firma 1981 nach Bad Gandersheim verlegt wird und er als Platzwächter für ein großes Autohaus arbeitet, bleiben sie dort wohnen – bis heute. Nach diversen Magenoperationen geht der 61-Jährige 1999 in den vorzeitigen Ruhestand. „Mein letzter Chef“, erzählt Mehmet nicht ohne Stolz, „hat mich immer ‚alter Preuße‘ genannt, weil ich bis zu 300 Autos auf dem Platz immer millimetergenau geparkt habe.“

Es muss Anfang der 80er-Jahre gewesen sein, als Attila, so um die 12 Jahre alt, inspiriert von diversen Kultfilmen aus den USA, den Breakdance entdeckt. Ein Cousin aus England zeigt ihm bei einem Familientreffen in Zypern die ersten Tanzschritte. Danach legt „Maxim“ mit seiner ersten Crew auf dem Ku’damm los. Aber HipHop ist nicht nur Breakdance, sondern auch Graffiti, Rappen und DJing. Bald ist Attila nachts mit der Sprühdose unterwegs.

Die Eltern ahnen mehr, als sie wissen. Manchmal sind seine Finger voll Farbe. Er wird nie auf frischer Tat ertappt, aber wiederholt von der Polizei aufgegriffen und nach Hause gebracht. Der Vater versinkt vor Scham. Er schimpft, es gibt Stubenarrest, vermutlich auch Schläge. Als sich Attila nur noch rumtreibt, statt zur Schule zu gehen, wird er in die Türkei verbannt. Ein paar Monate später erbarmt sich der Vater. Attila darf nach Berlin zurück. Als der Junge ankommt, trägt er einen Anzug. Aber die Wandlung ist nur äußerlich. Der Reigen – Breakdance, Graffiti, Schuleschwänzen – geht von vorne los. „Er war der Sache verfallen. Nichts konnte ihn abhalten“.

Manches Mal meint der Vater die Handschrift seines Sohnes zu erkennen. Als in Lichterfelde plötzlich überall rot und dick „Zulu-Nation“ an den Mauern steht. Als bei einer Hochzeitsfeier in Zypern der türkische Teil der Hauptstadt Nikosia bemalt ist. „Da ist er mit seinen Neffen losgezogen.“ Das ganze Ausmaß von Maxims Aktivitäten erfahren die Eltern allerdings erst viel später, manches erst nach seinem Tod: dass seine Leidenschaft „trains“ waren. Dass er zu den Pionieren gehörte, die ganze S-Bahn-Züge, „whole cars“, bemalten. Dass er nicht nur auf unzähligen Brücken und Gebäuden in der Stadt seine Signatur hinterließ, sondern auch auf Polizeiautos. Der Vater hört und staunt, aber mit Stolz erfüllt ihn das nicht: „Für mich ist das Sachbeschädigung. Beschmutzung von Staatseigentum.“

Attila verlässt die Schule ohne Abschluss. Auf dem letzten Zeugnis des 17-Jährigen stehen nur Sechsen. Er macht keine Ausbildung, geht keiner geregelten Tätigkeit nach. Dingliche Werte wie Geld spielen für ihn keine Rolle. Das Einzige, was zählt, ist „Fame“, Ruhm. Und davon hat Maxim genug. Für seine Freunde und Brüder in der HipHop-Szene ist er „the mighty“, der Mächtige.

Wenn er nicht unterwegs ist, bei Freunden pennt, kommt er in einer Kammer auf dem Dachboden in seinem Elternhaus unter. Es ist ein dürftiges Quartier, erzählen Freunde. Die Stimmung zu Hause ist schlecht. Es gibt viel Streit und Türenschlagen: nichts zum Lebensunterhalt beisteuern, aber den Kühlschrank leer essen. Auch später, als der erwachsene Mann Lichterfelde längst den Rücken gekehrt hat, geht es bei den Zusammenkünften zwischen Vater und Sohn meist um ein Thema: um Geld, das Attila angeblich nicht mit eigener Hände Arbeit verdient. Dabei lebt der Sohn zumindest streckenweise von seiner Kunst und einer Hundezucht. Bisweilen allerdings auch von Sozialhilfe.

Maxim lernt seine deutsche Freundin Tina kennen. Sie, von Beruf Bankerin, quittiert ihren Job, als sie mit dem gemeinsamen Sohn, Cihad Hilmi, schwanger ist. Maxim gibt seine Wohnung in Schöneberg auf, zieht zu ihr nach Neukölln. Von dort geht es nach Köpenick. Das Kind soll im Grünen aufwachsen. „Ausgerechnet Köpenick, wo keine Ausländer sind und man hundertprozentig auffällt.“ Für den Vater, der Zehlendorf nur verlässt, um in seiner alten Heimat Urlaub zu machen, ist diese Nachricht ein Schock.

Bisweilen greift er seinem Sohn finanziell unter die Arme. Aber eigentlich widerstrebt ihm das. Wer erwachsen ist und ein eigenes Kind in die Welt setzt, muss auch dafür sorgen können. Manchmal überwiegt Attilas Stolz, und er weist das Geld zurück, erzählen Freunde.

Die Treffen werden seltener. Die Enttäuschung entlädt sich in Briefen. Auch der Sohn spart nicht mit Kritik. Das Einzige, worum du dich sorgst, wirft er dem Vater vor, ist Geld. Wo bleibt deine Liebe und Zuneigung, auch für deinen Enkelsohn?

Diesen Brief, sagt Mehmet Aydan heute, hat Attila nicht selbst geschrieben. „So gut konnte er nicht Türkisch.“ Auch Streit und Konflikte hat es nach Angaben des Vaters nie gegeben. Er ist auch nicht der Ansicht, etwas falsch gemacht zu haben. „Aber wenn er nur 20 Prozent auf mich gehört und einen richtigen Beruf erlernt hätte“, bricht es aus dem Mann heraus, „wäre Attila nicht getötet worden.“

Es wirkt wie eine Ironie des Schicksals, dass es ausgerechnet ein Biedermann war – dazu noch hochbetagt –, der Maxim tötete. Ein ehemaliger DDR- Bürger, für den die Zeit stehen geblieben ist, der im beschaulichen Köpenick mit einem Springmesser in der Tasche zum Einkaufen geht. „Man liest und hört so viel im Fernsehen“, sagte der 76-Jährige zu seiner Entlastung vor Gericht. Nach der Tat wählt er 110 und ruft aufgeregt ins Telefon: „Hallo, ist dort die Volkspolizei?“ Als frühere DDR Bürger seien sie nicht mit dem „lockeren Dasein“ nach der Wende zurechtgekommen, sagt seine Ehefrau als Zeugin. Ihr Leben sei immer „ordnungsgemäß“ verlaufen.

Wenn er in seinem Wohnzimmer vor dem Bild von Attila sitzt, zehrt Mehmet Aydan von den innigen Momenten: als sein eigener Vater, der Oberkommissar, im April 2000 in Istanbul stirbt. Attila ist wie selbstverständlich da und hält am Bett des Großvaters Totenwache. Vor allem aber hat er das letzte Treffen vor Augen. Das war acht Monate vor der Tat. Vater und Sohn kaufen bei Aldi Blumenkohl, den Attila seiner Frau mitbringen soll. Dann begleitet Aydan seinen Ältesten in Zehlendorf zum S-Bahnhof. „Pass auf dich auf, alter Kämpfer“, sind Maxims letzte Worte, bevor er in den Zug steigt.