: Kleinkrieg um Schüler an der Landesgrenze
Das Bundesverfassungsgericht muss mal wieder einspringen, wo die Politik versagt: „Gastschüler“ ist das Stichwort. Es ist für einen Studenten aus Brinkum leichter, einen Studienplatz in Frankreich zu bekommen als einen Platz in einer Schule in Bremen. Die Bundesländer haben die bildungspolitischen Grenzen ganz hoch gezogen. Nun hoffen die Betroffenen bundesweit auf eine Bremer Klage vor dem Verfassungsgericht
Mit einer großen Fahrrad-Demonstration von Lübeck nach Karlsruhe hat die Freie Waldorfschule Lübeck gerade auf das Problem aufmerksam gemacht. Anlass der Aktion ist die „Landeskinderklausel“ von Schleswig-Holstein: Die Waldorf-Schule liegt nahe an der Landesgrenze, seit der Öffnung der Grenze werden viele Schüler aus Mecklenburg-Vorpommern in der Privatschule angemeldet. Und an der Grenze ist auf Mecklenburgischem Gebiet eine neue Siedlung entstanden, in die viele junge Lübecker Familien eingezogen sind, die ihre Kinder weiter in Lübeck zur Schule schicken wollen. Zwischen 50 und 60 Prozent der Kosten für die Schüler in Privatschulen trägt das Land – Schleswig-Holstein hat 1997 diese Zahlungen aufgekündigt für alle Schüler, die aus Mecklenburg-Vorpommern kommen. Ende 2002 sind auch die letzten Übergangsregelungen ausgelaufen.
„Mecklenburg-Vorpommern weigert sich, ein Gastschulabkommen mit uns abzuschließen, weil es dann zahlen müsste“, sagt die Sprecherin des Kieler Kulturministerin Ute Erdsiek-Rave, „das ist die Konsequenz.“
Schwerin war daher die erste Etappe der Demonstration. Aber an anderen Landesgrenzen gibt es die selben Probleme, deshalb wollen die Lübecker Waldorfianer sich mit einer Petition an die Kultusministerkonferenz wenden, die Kleinstaaterei doch bitte zu beenden – im Interesse der freien Schulwahl. Von den 560 Schülern der Lübecker Waldorf-Schule kommen 81 aus Mecklenburg-Vorpommern, die Streichung der Zahlungen ist also existenzbedrohend für die seit 25 Jahren bestehende Privatschule.
Bremer Bekenntnisschule
zog bis vor das
Bundesverfassungsgericht
Die Waldorf-Schule führt einen Rechtsstreit gegen „ihr“ Kultusministerium in Kiel, der ruht jedoch mit Hinweis auf das Verfahren, das die Freie Evangelische Bekenntnisschule Bremen vor Jahren gegen das Land Bremen angestrengt hat. „Wir haben seit 1997 alle Stationen durchgemacht“, sagt der Sprecher der Bremer Schule, Ulrich Berlin: Verwaltungsgericht, Oberverwaltungsgericht, Bundesverwaltungsgericht. Keines der Gerichte wollte die Frage entscheiden, ob das Recht auf freie Schulwahl der Eltern wichtiger ist als die Konkurrenz der Bundesländer an ihren Grenzen. Das Thema wurde an das Verfassungsgericht verwiesen, das keinen Mangel hat an Themen, die die Politik eigentlich selbst lösen könnte. Für dieses Jahr haben die obersten Richter einen höchstrichterlichen Beschluss angekündigt, aber wann das Urteil komme, kann derzeit noch nicht gesagt werden. Und so warten die Bremer und die Lübecker und alle anderen Privatschulen, während der Poker um das Geld im vollen Gange ist. „Wir haben deshalb ein Darlehen bei der Gemeinschaftsbank e.G. (GLS) beantragt, um wenigstens die Zeit bis zum Ausgang des Rechtsstreites überbrücken zu können“, erklärt die Lübecker Waldorfschule.
Das Land Niedersachsen hatte für die Bremer Privatschulen nicht so lange Übergangsfristen eingeräumt. Im Jahre 1996 kamen 25 Prozent der Schüler der Bremer Bekenntnisschule aus Niedersachsen, das waren ca. 260, heute sind es weniger als 100. Für einige gilt die „Geschwisterkinder“-Regelung, die einzige Übergangs-Klausel, für andere macht die Schule im Rahmen ihres eigenen Auftrages eine Ausnahme. Während der private Schulgeld-Anteil im Regelfall 130 Euro ist, müssten die Eltern ca. 250 Euro drauflegen, um den staatlichen Finanzierungsanteil zu ersetzen. Das könnte kaum eine Familie sich leisten. Nur für die private Sonderschule „Tobiasschule“ zahlt Niedersachsen – weil ein eigenes Angebot nicht vorhanden ist.
„Es gibt ein paar Bereiche, da könnte Niedersachsen fairer agieren, etwa beim Privatschulgeld. Da hat Niedersachsen sehr kleinkariert Verträge gekündigt“, hat der neue Ministerpräsident Christian Wulff einmal die fehlende grenzüberschreitende Kooperation kritisiert – vor der Wahl. Nach der Wahl stellt seine Kultusbehörde fest: Regelungen der sozialdemokratischen Vorgänger-Regierung werden nicht angetastet, wenn das mehr Geld kosten könnte.
Etwa 600 Schüler aus Niedersachsen besuchen staatliche Schulen im Land Bremen. Wer aus seinem Ort im Landkreis Cuxhaven eine Bremerhavener Schule per Fahrrad erreichen könnte oder aus dem stadtbremischen Umland in eine allgemeinbildende Bremer Großstadtschule gehen will, der muss sich schon etwas einfallen lassen. „Da muss man tricksen“, räumt der neue niedersächsische Fraktionsvorsitzende David McAllister (CDU) ein, der selbst aus Cuxhaven kommt und das Problem hautnah kennt. Früher haben viele Oberschüler sich rechtzeitig bei Bekannten in dem anderen Bundesland polizeilich angemeldet, um keine Probleme bei der Schulwahl zu bekommen. Aber das geht heute nicht mehr: Das neue Bremer Meldegesetz erlaubt Minderjährigen nicht mehr, einen anderen ersten Wohnsitz zu haben als mindestens ein Erziehungsberechtigter. Nur wenn der Schulweg über die Grenze in die Stadt erheblich kürzer ist oder ganz besondere Fachrichtungen in der Oberstufe angewählt werden sollen, wird der Schulweg über die Landesgrenze genehmigt. Nur für diese Fällen zahlt Niedersachsen pauschal einen Ausgleich, der aber auch nicht kostendeckend ist.
Hamburg verhandelt –
aber nur mit
Schleswig-Holstein
In Hamburger Allgemeinbildenden Schulen gehen etwa 2.000 Schüler aus Schleswig-Holstein – im Stadtrandgebiet von Hamburg ist die Landesgrenze besonders dicht. Zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein gibt es ein „Gastschüler“-Abkommen, seit 1963. Die Summen werden alle fünf Jahre neu verhandelt. Im Juli 2002 verkündete die Schleswig-Holsteinische Landesregierung, die jährlich fließenden 3,9 Millionen Euro sollten nun ganz eingespart werden. Im September verkündete Hamburgs Bildungssenator Rudolf Lange (FDP), er habe eine neue Einnahmequelle für die Löcher in seinem Haushalt entdeckt: Drei Millionen Euro zusätzlich müsse durch das Gastschülerabkommen mit Schleswig-Holstein mehr in die Kasse kommen, weil die alte Summe die Kosten bei weitem nicht decke. Hintergrund dieses Pokers in der Öffentlichkeit sind vertrauliche Verhandlungen: Ende 2002 lief die Vereinbarung über den finanziellen Transfer aus Schleswig-Holstein aus. Und die Verhandlungen über die neue Summe laufen noch. Der Sprecher des Hamburger Bildungssenators meint: „Es gibt sehr konstruktive Gespräche.“
Schleswig-Holstein zahlte bisher auch für Landeskinder, die in Hamburg eine Privatschule besuchen – Niedersachsen tut das nicht.
Das Problem ist übrigens kein typisch norddeutsches. Jüngst hat sich Münchens Oberbürgermeister Christian Ude beschwert: „Die Gastschüler kosten uns jährlich bis zu 50 Millionen Euro.“ Auch München wollte damit drohen, die Zahl der „Gastschüler“ zu reduzieren. Klaus Wolschner
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