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Archiv-Artikel

SPD-PARTEITAG: KAUM POLITIK, KEINE DISKUSSION, ABER VIELE GEFÜHLE Die Symmetrie des Jaulens

Wer wollte das nicht, eine „aufrichtige Reformdebatte in Deutschland“? Und wer würde Franz Müntefering, dem künftigen Vorsitzenden der SPD, bei seiner Rede auf dem Berliner Parteitag nicht zustimmen, dass hier nicht nur die politischen Parteien, sondern auch die gesellschaftlichen Kräfte „in hohem Maße Nachholfbedarf haben“. Das Problem ist nur, dass für die SPD das Ergebnis der Debatte von vornherein feststeht. Zur Agenda 2010 gab und gibt es keine Alternative.

Natürlich will Müntefering am „S“ festhalten. In seiner Inaugurationsrede forderte er von den Gewerkschaften, sich im Schulterschluss zu üben, sprach vom Fortbestand der „Arbeitnehmerbewegung“ (hieß das nicht mal anders?) und versuchte so, den 130-jährigen Traditionsbestand der Partei zu mobilisieren: Nur die SPD sei in der Lage, die divergierenden „Interessen zu bündeln“.

Dass das „S“ der SPD für die Unternehmer nützlich ist, bedarf keiner großen Beweisführung. Eine brachiale Politik in deren Interesse ist noch immer am besten, das heißt ohne allzu hartnäckigen Widerstand, vermittels der Sozialdemokraten durchsetzbar. Für Anhänger und Wähler der SPD stellt sich die Nützlichkeitsabwägung komplizierter dar. Wie kommen wir aus dem Keller? Hat Münte nicht Recht damit, dass der „Sozialstaat der Vergangenheit“ nicht zu halten ist? Verschärft wird die Sinnfrage „Warum noch Sozialdemokrat“ dadurch, dass die Linkskräfte in der SPD über kein kohärentes Gegenprogramm verfügen. Die Zähne zusammenbeißen, in der Partei ausharren und auf bessere Zeiten hoffen?

Wo eine Alternative nicht in Sicht ist, bleibt das weite Feld der Emotionen. In seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender beschwor Schröder die Liebe derer, auf die er sich gestützt habe und deren Liebe er erwidere. Egon Bahr, immer noch ein glänzender Taktiker, fasste das Emotionenknäuel nüchterner. Vor wenigen Tagen monierte er, dass in der SPD-Agenda 2010 Maßnahmen fehlten, die die Unternehmer „aufjaulen“ ließen. War das ein ernstgemeinter Vorschlag zur Steuerpolitik? Keineswegs. Vielmehr zielt er auf die Symmetrie des Jaulens, die den Lohnabhängigen das Gefühl vermitteln soll, alle Bevölkerungsschichten müssten bluten. Es geht um die Herstellung von Gerechtigkeit im Reich des „Als ob“. Und ein Aufschrei der Unternehmerverbände ist leicht zu bewerkstelligen.

Jeder SPD-Anhänger weiß, dass es Münteferings alleinige Aufgabe als Parteivorsitzender sein wird, dem Kanzler „den Rücken freizuhalten“. Ein Einpeitscher des Kanzlers, gewiss, aber so ehrlich, so gut fürs Gemüth. Es soll noch Sozialdemokraten geben, denen diese Politik der Gefühle nicht genügt. Ihnen wird jetzt gesagt, in der Sozialdemokratie müsse wieder eine Dialektik zwischen Kanzlerschaft und Partei etabliert werden. Der Kanzler fürs Regieren, die Partei für Visionen, die dem Tagesgeschäft die große Linie vorgeben. Aber wo in der Partei soll sich dieses Denken entfalten, wenn es trotz versprochener „großer Debatte“ nur gilt, die Reihen zu schließen?

Von Schröder stammt das Bekenntnis, er werde nicht „gegen die Wirtschaft“, sprich gegen die organisierten Unternehmer regieren, und genau auf diese Linie hat er die Mehrheit der Funktionsträger getrimmt. Nichts anderes als die von der Kapitalseite behaupteten Imperative bedeuten in Münteferings Rede „die nationalen und internationalen Herausforderungen“. Dem gegenüber ist aus der in Berlin viel bemühten 130 Jahre alten SPD-Geschichte zu lernen, dass Maßnahmen zum Schutz und zur Besserung der Lage der Lohnabhängigen stets nur gegen die Unternehmer durchsetzbar waren und sind; dass sie ferner keineswegs dazu führen müssen, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen zu unterhöhlen. Schröder wird weiter auf der schiefen Ebene des Sozialabbaus herunterrutschen, es gibt kein Ende, kein „Bis hierher und nicht weiter“. Die Idee, dass jetzt alle wesentlichen Grausamkeiten zugefügt worden sind und neue Gestaltungsräume sich auftun, wird von der Parteiführung selbst dementiert.

Von daher wäre die Abspaltung eines linken Flügels rational. Allein: Das deutsche Parteiengefüge ist zäh, Neugründungen überaus feindlich. Es bedarf, wie im Fall der Grünen, einer Kumulation objektiver Krisenerscheinungen (wie der lebensbedrohenden Atomtechnologie), subjektiver Potenziale (Antiatom-, Friedensbewegung) und veränderter gesellschaftlicher Wertorientierungen (dem postindustriellen Syndrom), um eine Neugründung zum Erfolg zu führen. Evidentermaßen fehlt es bei den SPD-Frondeuren an diesem günstigen Umfeld. Denn der Gewerkschaftsbewegung als Träger einer potenziellen Linkspartei will es nicht gelingen, sich zu öffnen, neuen sozialen Kräften Raum zu geben, deren Ideen programmatisch zu verarbeiten. Die Neugründer werden als die Ewiggestrigen gelten. Dann geht die SPD in die Opposition und das alte Spiel von linken Versprechungen und anschließender Kapitulation vorm „Sachzwang“ beginnt von neuem. CHRISTIAN SEMLER