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Archiv-Artikel

Armut ist kein Thema

Sozialumbau? Die Kirchen konzentrieren sich lieber auf die Seelsorge und die Verkündigung

Die Präses der EKD-Synode will soziale Gerechtigkeit wieder zum Thema machen

von ULRIKE HERRMANN

Kanzler Schröder macht sich an den Umbau der Sozialsysteme – und die Kirchen schweigen weitgehend. Höchstens auf Nachfrage äußern sich die evangelischen und katholischen Hirten zur Agenda 2010. Dann aber lassen sie deutliche Zustimmung erkennen. So sagte Kardinal Karl Lehmann zum Auftakt des Ökumenischen Kirchentags: „Wir können den Charakter unseres Sozialstaats nur erhalten, wenn wir ihn verändern.“ Sein protestantischer Kollege Manfred Kock sah es genauso. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) argumentierte mit dem Sachzwang: „Wir sind an manchen Punkten an das absehbare Ende des Finanzierbaren gekommen.“

Diese Sicht verbittert so manchen an der Basis. Etwa Matthias Rabbe von der Katholischen Arbeitnehmerbewegung. Er würde sich „klare Worte“ wünschen von den Kardinälen. „Eigentlich müssten sie anprangern, dass Arbeitslose ausgegrenzt und diffamiert werden.“ Aber damit rechnet er nicht: „Das Sozialwort lebt nicht mehr in der Kirche.“

Das Sozialwort. Im Februar 1997 wurde es von beiden Kirchen gemeinsam veröffentlicht. Der genaue Titel lautete: „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“. Denn damals sorgten sich die Kirchen, weil sie einen „wachsenden Riss zwischen Wohlstand und Armut“ konstatierten. Und sie forderten, dass „nicht nur Armut, sondern auch Reichtum ein Thema der politischen Debatte sein muss“.

Dabei waren die Kirchen nicht realitätsblind, sie erkannten an, dass der Sozialstaat reformiert werden muss – aber sie kritisierten, dass die „Umverteilung gegenwärtig häufig Umverteilung des Mangels ist, weil der Überfluss auf der anderen Seite geschont wird“. Daher warnte man: „Anpassungen des Sozialstaats dürfen nicht nur und auch nicht in erster Linie den Geringerverdienenden, den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern zugemutet werden.“

Damals hat Kardinal Lehmann das Sozialwort unterzeichnet, inzwischen ist er zu anderen Ansichten gelangt. Jetzt wendet er sich etwa gegen eine erhöhte Vermögen- und Erbschaftsteuer und diffamiert jene, die sie fordern: „Von vielen wird im Moment Sozialneid geschürt“, sagte er der Berliner Zeitung.

Es sei eine „Trendwende“ in den Kirchen festzustellen, beklagt sich ein hochrangiger evangelischer Vertreter, der lieber ungenannt bleibt. „Die Prioritäten lauten jetzt: Seelsorge und Verkündigung.“ Gesellschaftliche Probleme wie Armut würden entweder individualisiert „oder ästhetisiert“. Man nimmt es als Zeichen, dass sich die evangelische Kirche zwar kaum noch zu sozialen Fragen äußert – dafür aber kürzlich eine umfassende Denkschrift zum Thema „Religion und Kultur in evangelischer Perspektive“ verfasst hat.

Nun hoffen die Kritiker auf Barbara Rinke. Die 56-jährige SPD-Oberbürgermeisterin aus Nordhausen in Thüringen wurde am letzten Sonntag zur Präses der EKD-Synode gewählt. Und die erste Frau in diesem Amt kündigte sofort an, dass sie die soziale Gerechtigkeit wieder zum Thema machen will.