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Archiv-Artikel

die taz vor 15 jahren: „sozialabbau“ wird wort des jahres

Wird ein Zögling „auffällig“, so tritt die Schulbehörde auf den Plan. Bei „auffälligen“ Worten besorgt dieses Geschäft die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) mit Sitz in Wiesbaden. Eine Fachjury hat den guten alten „Sozialabbau“ zum Anführer der auffällig gewordenen Wörterrotte gewählt. Der Begriff stehe, so die Jury, für zahlreiche „Reizwörter“ wie „Viertagewoche“, „zweiter Arbeitsmarkt“, „Nullrunde“ und Frühver(?)rentung“.

Später Triumph für die Texter zündender gewerkschaftlicher Losungen! Der „Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit, Lohnraub und Sozialabbau (oft auch: soziale Demontage)“ hat uns getreulich auf Kundgebungen und Aufmärschen durch die Jahrzehnte begleitet. Könnte es sein, daß dieses alte Schlachtroß, von den Narben zahlloser Niederlagen übersät, endlich doch noch den öffentlichen Diskurs bestimmt?

Eine alarmierende Nachricht für Herrn Professor Lübbe in Zürich; versichert uns dieser Gelehrte doch mit Nachdruck, daß ein entschlossener Kampf um die Begriffe vonnöten sei, um das Erbe der 68er Kulturrevolution zurückzudrängen. Jetzt diese neuerliche Niederlage! Denn der korrekte Begriff, der für die Erörterung des in Frage stehenden Sachkomplexes bereitsteht, lautet doch: soziale Besitzstände. Sie sind es, die es in Frage zu stellen gilt, statt sich ideenlos und schäbig an den erreichten Stand staatlicher Sozialleistungen zu klammern! Hätte doch Kohl wenigstens die einheitstiftende, versöhnende Rede vom „Sozialpakt“ nicht dem raschen Verschleiß überantwortet. So hat der „Sozialpakt“ es nicht einmal geschafft, einen Platz unter den ersten zehn zu ergattern.

Unsere Regierung braucht am öffentlichen Bewußtsein nicht zu verzweifeln. Das so nötige „Umdenken“ ist ebenso ganz vorne gelandet wie der „Asylkompromiß“. Aber auch hier wird das Bild verdüstert durch solche Schmutzfinken wie „großer Lauschangriff“ (statt der korrekten „elektronischen Überwachung“) oder „Amigo-Affaire“ (statt „Sponsoring von Ferienreisen“).

Christian Semler in der taz vom 21. 12. 1993