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Archiv-Artikel

Hanna Gersmann über die Raupeninvasion in Norddeutschland

Der Schrecken purer Kontraktion

Insektenplagen waren im Mais-Paradies Schleswig-Hamburg-Holstein jahrelang kein Thema. Bis Limitis Capensis die Plantagen heimsuchte. Wie die Verwandte einer Schmetterlingsraupe aus Südafrika nach Deutschland gelangen konnte, ist Forschern ein Rätsel – klar ist nur: Der Traum vom giftfreien Feld ist aus

Kevin Oldenbourg hat ein Problem: Raupen. Zwar wird es keine Stunde mehr dauern, bis er sie wieder los ist – doch von seinen prächtigen Maisfeldern wird dann auch nichts übrig sein. Der rundliche 44-Jährige sitzt in der geräuschlosen Schaltzentrale seines 1.200 Hektar großen landwirtschaftlichen Betriebs und schaut angewidert auf Monitor drei, der neben vier anderen vor ihm an der Wand hängt. Am unteren Rand schieben sich drei Zentimeter kompaktes, gelblich schimmerndes Protein über die Mittelrippe eines zartgrünen Maisblatts. Der haarige Körper richtet sich auf, streckt sich, lässt vorne schwarze Stummelbeine hinab und zieht das tumbe Hinterteil nach. Mit purer Kontraktion erobern die Raupen das Terrain, zu abertausenden vernichten sie Oldenbourgs Ernte. „Das hat sich noch nie ein Schädling getraut“, sagt der Agrarier verbissen.

Seit das Thermometer Anfang April 25 Grad Celsius überschritten hat, breiten sich die exotischen Schmetterlingskinder nicht nur auf seinen riesigen Maisflächen explosionsartig aus, sondern auf allen fünf Betrieben in der norddeutschen Region Schleswig-Hamburg-Holstein. Die Wissenschaftler sind sich einig: Eine vergleichbare Plage hat es seit 20 Jahren nicht gegeben. „Damals hieß Premiumqualität noch Grüne Gentechnik. Und den Schädlingsbefall hielten alle für ausgeschlossen“, hämt Oldenbourg.

Nun knabbern Raupen Riesenlöcher in seine Pflanzen, auf seinen Monitoren kann er das gut beobachten. Die Maissorte X 8 Mega Plus Allergen des umstrittenen US-Konzerns Monventis schmeckt ihnen offenbar. Auch Oldenbourg schwört auf die Sorte, hat seinen Vertrag als Subunternehmer erst kürzlich um zehn Jahre verlängert. Schließlich handelt es sich nicht um gewöhnlichen Speisemais, sondern um eine Arzneipflanze, in der sich ein hochwirksamer Allergieblocker entwickelt. Schätzungsweise jeder zwanzigste Europäer hat ihn schon mal eingenommen. Auf der ganzen Welt gefragt, wächst er nur in warmen, nicht zu trockenen Gebieten.

Der Maiskurs steigt

In Warschau an der europäischen Getreidebörse Crop-Stock – Monitor zwei – wird die Tonne zu sagenhaften 730 Euro gehandelt. Wenigstens auf den Börsenkurs hat der Schädling noch keinen Einfluss. Oldenbourg ist trotzdem in Panik: „Das Biest ruiniert uns.“ Klick. Der Bauer hat Monitor drei ausgeschaltet, er schaut lieber auf Monitor vier. Dort überprüft eine Frau in weißem Kittel die Zusammensetzung des Gifts, das gleich in die Spritzmaschine laufen wird. Die Forscherin ist blass, blickt auf ein Röhrchen mit lila Flüssigkeit, zuckt mit den Schultern. „Hm“, sagt Oldenburg zum Monitor.

Schon als die ersten Raupen aufgetaucht waren, hatte er Monventis informiert. Noch am selben Tag schickte der Konzern vier Biologen vom Institut für Parasitologie der Harvard-Universität – samt mobilen Labors. Sie sollten den kleinen Gegner so schnell wie möglich bekämpfen. Die Manager waren verschreckt, weil radikale Gentech-Kritiker schon seit Jahren drohen, Felder zu verseuchen. Außerdem will Monventis in den nächsten Wochen eine vitaminreiche Premium-Ananas vorstellen. Sie soll für kleine Betriebe mit Sonderkulturen in trockenen Regionen wie Brandenburg-Berlin geeignet sein. Kein Insekt soll diese Weltpremiere vermasseln. Kein Insekt soll jenen Kritikern Auftrieb geben, die warnen, die künstlich aufgepäppelten Pflanzen seien langfristig zu anfällig.

Vermasselte Premiere

Trotzdem ging das große Fressen auf Oldenbourgs Acker mehr als vier Tage weiter. „Monventis“, so sagt er, „ist führend in der Entwicklung von Medikamenten, braucht aber ewig, um ein effektives Gift zu mischen.“ Der Eindringling war den Forschern absolut fremd. Dennoch verwarfen sie ihre erste Idee, das Gift DDT einzusetzen. Das Mittel ist extrem schädlich, war früher sogar verboten und ist heute nur mit Sondergenehmigung im Falle einer Epidemie erlaubt. „Als wäre das hier keine“, regt Kevin Oldenbourg sich auf. Zwei der Experten aus den Vereinigten Staaten zupften jedenfalls die Raupen von Oldenbourgs Feldern, eine pro Quadratzentimeter. Sie digitalisierten ihre Wege – vier Meter pro Tag – und berechneten die vertilgte Maismenge – 21 Gramm pro Stunde. Die anderen beiden analysierten derweil die Gensequenzen und glichen sie mit den weltweiten Datenbanken ab. Als sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatten, wurden sie doch noch fündig, und zwar in Südafrika.

Dort hat Oldenbourgs gefräßiger Feind Verwandte. Eine ähnliche Art kommt auf Plantagen mit Rooibos-Tee vor. Seitdem der von Natur aus an Vitamin C reiche Tee dem gentechnisch angereicherten Darjeeling in Asien und Europa den Rang abläuft, wachsen diese Plantagen enorm. Doch entwickelt die Raupe Limitis capensis am Kap lange nicht so einen Appetit wie in Schleswig-Hamburg-Holstein, ihre Schmetterlinge sind matter gefärbt. Warum? „Weiß kein Mensch!“, erklärt Oldenbourg. Und wie kommt die Raupe von Süden nach Norden über den Globus? „Unklar.“

Zu wenig Zeit für Tests

Die Parasitologen – jetzt diskutieren alle vier auf Monitor vier – mischten schließlich das entsprechende Gift. Einen Tag später lieferte ein Laster den gewünschten Nachschub. Die tödliche Mixtur sei „superspezifisch“, auf die Art abgestimmt, beeinträchtige Boden und Wasser kaum, versprachen die Forscher Oldenbourg. Tests, die das auch beweisen, sind nicht mehr gemacht worden – „zu wenig Zeit“, sagt Oldenbourg knapp.

Proteinreicher Sondermüll

Und wenn er sich langfristig seinen Acker ruiniert, wenn Rückstände in seinem Mais auftauchen? „Was soll ich denn machen?“, fragt er zurück, den leeren Blick auf Monitor fünf gerichtet. Dort ist die riesige, 50 Meter breite Spritzmaschine zu sehen. Oldenbourg steht auf, aktiviert die Spracherkennung an seinem Pult und sagt deutlich „Start Programm zwei“. Auf Monitor fünf setzt sich die Spritzmaschine langsam in Bewegung.

Noch einmal wandert der Blick zu Monitor eins, auf dem die weiten Flächen von seinem Betrieb zu sehen sind. Dieses Panorama sieht er dort vorerst zum letzten Mal: die wellige Landschaft unter dem blauen norddeutschen Himmel, der Mais reicht bis zum Horizont. Schon schiebt sich die erste lila Giftwolke vor das Bild. Morgen kommen die Maschinen, die den proteinreichen Sondermüll abräumen werden. Kevin Oldenbourg seufzt tief, schaltet die Monitore ab und verlässt den Raum.