: Missionare überm Supermarkt
aus Köln ULRIKE WINKELMANN
Wer stirbt, kostet nichts. Aber wer mit Herzinfarkt-Risiko lebt, kostet bis zu achtmal mehr als ein Gesunder. Lohnt es sich also für die Krankenkassen, wenn alle Herzinfarkt-Kandidaten mit Blutfettsenkern behandelt würden? Ein 45-jähriger Durchschnitts-Mann würde vier Monte länger leben, wenn er die nächsten 30 Jahre Blutfettsenker nähme. Lohnt sich das für ihn?
Professor Karl Lauterbach zückt eine weitere Grafik, eine weitere Tabelle. Rund 30 Studentinnen und Studenten mühen sich zu folgen. Lauterbach spricht gleichmäßig, dank des rheinischen Singsangs nicht ganz monoton, aber emotionslos und trocken. Es ist noch früh am Montagmorgen, doch der winzige Seminarraum wärmt sich schnell auf. Der Ventilator kühlt nur diejenigen, die direkt davor sitzen. Aber dies ist Lauterbachs einzige Vorlesung pro Woche, da muss dabei sein, wer einen Abschluss machen will. In diesem Jahr produziert Lauterbachs Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie die ersten Abgänger. Auch wenn es ein noch junges Institut ist – 1998 wurde es erst Teil der Kölner Universität –, hat es schon Wirbel verursacht: Hier wurde die Gesundheitsreform ausgedacht und ausgerechnet, die Ärzte und Politiker so aufregt.
In Lauterbachs Vorlesung werden Lebenserwartungen addiert, Restlebensjahre ermittelt und in Kosten umgewandelt. Was kostet Gesundheit?, lautet die Grundfrage. Zu viel, ist Lauterbachs Antwort, die er nicht nur in seiner Vorlesung ausführt, sondern seit zwei, drei Jahren auf jedem der unzähligen Diskussionspodien, wo er auftritt und vorträgt, was sein Institut erarbeitet hat. Zu viel – aber sie könnte billiger sein und trotzdem besser, sagt er dann. Um die Bevölkerung trotz Vergreisung und medizinischen Fortschritts weiter gut zu versorgen, muss man die Krankenversicherung nicht privatisieren, sondern das System effizienter machen.
Mit dieser Aussage ist das SPD-Mitglied Lauterbach für die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt zum engsten Berater geworden. Er und seine Mitarbeiter vom Kölner Institut haben die Stichworte zu ihrer Gesundheitsreform geliefert. Er hat den hässlichen Dreiklang „Über-, Unter- Fehlversorgung“ geprägt, das Verdikt, mit dem er die medizinische Versorgung in Deutschland belegt und das die Begründung liefert für die Reform. „Die Deutschen“, pflegt er zu sagen, „bezahlen bei der Gesundheit für einen Mercedes, aber sie kriegen nur einen Golf.“
Niemand hat den Besitzstand der Mediziner bislang so in Frage gestellt wie Lauterbach, und das kann er nur, weil er selbst Arzt ist – und weil er ein Institut hat, in dem ein Dutzend Leute sitzen, die großenteils auch Ärzte sind und überzeugte Lauterbachianer. Ihre schmucklosen Zimmer, weiße Wände, blaue Türen, sind ebenso wie der Vorlesungsraum eingeklemmt zwischen einer Zahnarzt- und einer Steuerberatungspraxis im dritten Stock eines Neubaus nahe am Uni-Viertel. Hier sind die Wohnstraßen eng und beschaulich. Unten im Haus ist ein Supermarkt, die Sonne scheint auf Grillkohlestapel und die Billigblumen.
Wenn Lauterbach aus einer Sitzung der Rürup-Kommission oder von einer Diskussionsveranstaltung im Institut anruft, weil er dringend eine Zahl braucht, dann wird sie hier von seinen Mitarbeitern besorgt, egal wie spät es ist. „Er ist flexibel, und wir sind flexibel“, sagt Stephanie Stock aus seinem Team. Sie hat klare hellbraune Augen, die Haare über der Stirn hochgesteckt und eine fast übermäßig gewinnende Ausstrahlung. Man kann sich vorstellen, dass sie auch bald in Talkshows sitzen und das Hohelied der Effizienz singen wird.
Die Lauterbachianer sind mehrheitlich 1960er-Jahrgänge. Außer Medizin haben sie meist auch Wirtschaft oder Politologie in Deutschland und Amerika studiert und schon als Kinderarzt im Krankenhaus, Hausärztin oder Klinikmanager gearbeitet. Das Getöse in Berlin über die Gesundheitsreform nehmen sie nur am Rande wahr, obwohl es ihre Forschungsergebnisse sind, die dabei verhandelt werden: Ach ja, stimmt, am Mittwoch ist das Reformgesetz das erste Mal im Bundestag.
„Natürlich identifiziere ich mich mit der Reform“, sagt Stock. Sie hat an dem Konzept für das geplante „Zentrum für Qualität in der Medizin“ gearbeitet, das von Opposition wie Ärzteschaft als „Bürokratie-Monster“ verschrieen wird. „Das würde mir wehtun, wenn das Zentrum in den Verhandlungen mit der Union gekippt würde.“
Den Druck von außen fängt der Chef ab. Die Spannung, unter der Lauterbach steht, merkt man daran, wie ungehalten er jeden Einwand vom Tisch fegt, mit aufgerissenen Augen fast ohne Lidschlag hinter der Nickelbrille. Er hat seine Mission. Weil er weiß, dass Gesundheitspolitik schwierig zu vermarkten ist, hat er einen Sinn für Markenzeichen entwickelt. Seines ist die Fliege geworden. Die Fliege und der dadurch immer geschlossene Kragen lenken davon ab, dass er mit seinen 40 Jahren nicht nur sehr jung für einen Professor und Regierungsberater ist. Sie sieht auch so sehr nach Korrektheit und Respektabilität aus, dass gar nicht auffällt, dass Lauterbach eigentlich ein dünner Kerl mit einem jungsmäßigen, immer leicht strubbeligen Stufenschnitt ist, ein Typ also, der ohne Fliege und Jackett allenfalls als hilfswissenschaftlicher Hungerhaken, nie und nimmer aber als Hauptfeind der verfassten Ärzteschaft durchginge. Die Namen, die sie ihm angehängt haben – „Ministerinnen-Flüsterer“ und „Schmidts Rasputin“ –, nutzt er zur Profilierung. Der Visionär und die Verweigerer – so hat er es gern.
„Ich habe“, sagt Lauterbach, „mit dem Mythos der besten Medizin der Welt Schluss gemacht.“ Er haut den Ärzten die Statistiken um die Ohren: Herzkreislauf? „Nur jeder vierte Bluthochdruck in Deutschland wird erkannt und behandelt.“ Diabetes? „28.000 Füße pro Jahr müssen amputiert werden, weil die Ärzte nicht auf Durchblutungsstörungen achten.“ Diagnostik? „Jedes dritte Röntgenbild ist überflüssig.“
Lauterbach hat das Effizienzdenken nicht erfunden. Er hat es aus den USA mitgebracht, wo er sechs Jahre lang an der Harvard-Universität gearbeitet hat: over-, mis- and underuse heißt die Über-, Unter- und Fehlversorgung im ebenfalls klangvollen Orginal. Vieles im Institut ist aus den USA importiert. Was Stephanie Stock und ihre Kollegen von der Arbeit erzählen, klingt wie das Einmaleins modernen Managements: Teamwork, Brainstorming, alle Fragen sind erlaubt, Arbeitszeiten flexibel, Kinderhaben kein Hindernis. „Natürlich ist das abgedroschen“, sagt Stock, „aber wo wird es denn gemacht? In den Kliniken darf man nicht zweimal das Gleiche fragen, ohne abgekanzelt zu werden.“
Andreas Gerber, Theologe und Mediziner, stimmt seiner Kollegin zu. Er ist weniger lebhaft als sie, hat aber eine klare Begründung, warum er im März seinen Job als Kinderarzt hingeworfen und bei Lauterbach angeheuert hat. Kinder lehren einen Arzt, dass ein knapper Mitteleinsatz nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ethisch geboten ist, sagt er: „Ein Kind wehrt sich immer. Deshalb stellt sich bei jeder Behandlung die Frage: Darf ich das dem Menschen zumuten?“ Die Krankenhäuser jedoch nähmen darauf keine Rücksicht. „Fast täglich wird da Blut entnommen und viel zu viel geröntgt.“ Die Kategorien Ethik und Ökonomie, sagt Gerber, „reichen eigentlich nicht, um das zu erfassen, worum es da geht. Ich finde, Medizin muss auch ästhetisch sein. Verschwendung ist nicht ästhetisch.“ Gerber wie auch die anderen wissenschaftlichen Mitarbeiter, Marcus Redaèlli oder Afschin Gandjour, haben Spaß daran, Medizin nichtmedizinisch zu beschreiben. Gandjour schreibt nebenher eine Magisterarbeit in Philosophie, Redaèlli denkt über Wissensmanagement-Theorien nach.
Den Lauterbachianern ist klar: Ulla Schmidt verkauft der Öffentlichkeit, was Lauterbach ihr verkauft, und Lauterbach verkauft, was sein Institut zubereitet hat. Soweit sie das mitbekommen, macht die Gesundheitsministerin ihren Job ganz gut. „Sie kann Informationen verarbeiten und auswerten“, lobt Stock. Lauterbach sagt: „Mittlerweile versteht sie wirklich, worum es geht.“ Das ist im Gestrüpp eines Politikfelds, das mehr als andere auf Wissenschaftler angewiesen ist, keine Selbstverständlichkeit. Praktisch jeder deutsche Gesundheitsökonomie-Professor berät Politiker.
Freilich würden Karl Lauterbach und seine Mitarbeiter auch nie behaupten, sie seien einflusslose Gelehrte. Stephanie Stock sagt: „Wir verstehen das so, dass wir dadurch, wie wir Wissenschaft vermarkten, ihr erst den gebührenden Platz schaffen. Wir wollen, dass Wissenschaft umgesetzt wird, und dazu haben wir uns der Sprache der Politik angepasst. Wir sind Provokateure.“
Wie sie das so sagt, wirkt die Gesundheit hier, in dem Institut überm Supermarkt, nicht schlechter aufgehoben als im Machtgerangel der Hauptstadt.
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