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Archiv-Artikel

Transsib zwischen Küche und Klo

Mit dem Luxuszug mehr als fünftausend Kilometer von Moskau an den Baikalsee. Die Rundumbetreuung der geschätzten Touristen bedeutet für die Mitarbeiter 15-Stunden-Schichten. Begegnungen mit einem modernen Kollektiv

VON BARBARA OERTEL

Kaum hat der Zug den Jaroslawer Bahnhof in Moskau verlassen, da steht er auch schon in der Abteiltür. „Haben Sie einen Wunsch?“, fragt der stämmige Mann lächelnd, der in einer dunkelblauen Uniform mit Messingknöpfen samt passender Kopfbedeckung steckt und sein Gegenüber mit spitzbübischem Blick fixiert.

Nikolai Generalow ist einer der beiden Schaffner in diesem Waggon und somit der Mann für alle (Not-)Fälle. Sein Grundsatz lautet: „Der Tourist ist nicht nur ein einfacher Passagier, sondern ein ganz besonderes Wesen. Er soll sich erholen, er soll gute Laune haben.“

Dafür sorgt der Moskauer – jeweils zwölf Stunden am Stück. Er hält die Toiletten sauber, verwandelt das Sofa im Abteil mit zwei geschickten Handgriffen in eine Schlafstatt, er regelt die Wärme- und Stromzufuhr, und er bereitet Tee für die Gäste – wenn es sein muss, auch noch mitten in der Nacht. Als ein Schuhabsatz dem ausschweifenden Wodkakonsum einer Touristin nicht standhält, weiß er sofort Rat. „Hab ich unserem Elektriker gegeben. In einer Stunde ist der Schuh wieder wie neu.“

Ganz freiwillig legt Nikolai Generalow nicht jeden Monat mehrere tausend Kilometer auf Schienen zurück. Früher hat er 13 Jahre lang im Moskauer Institut für technische Automatisierung gearbeitet. Doch seit der Achtzigerjahre blieben zunehmend die militärischen Aufträge und die Gehälter aus, und der 49-Jährige stieg auf die Bahn um. „Ich liebe es, mit Menschen zu arbeiten, im Kollektiv eben“, sagt der Schaffner. „Ich kann Konflikte lösen.“

Und auch schwierige Situationen, wie sich zeigt. Gerade im letzten Moment gelingt es Nikolai Generalow, eine Frau, die die Abfahrt verpasst hat, vom vereisten Bahnsteig noch in den Zug zu hieven. „Fick deine Mutter!“, entfährt es ihm, und man weiß nicht recht, ob seine rote Gesichtsfarbe der Anstrengung oder der Scham ob des von anderen belauschten Fluchs geschuldet ist.

Wenn gerade einmal nichts zu tun ist, betrachtet Nikolai Generalow von seinem engen Dienstabteil aus die schier endlose Landschaft, die draußen vorüberzieht, oder er ist in die Lektüre der Novaja Gazeta, einer der wenigen russischen oppositionellen Zeitungen, vertieft. „Ich bin ein Anhänger der Liberalen, der Jabloko-Partei“, sagt er, „aber die hat bei den letzten Wahlen ja nicht einmal die Fünfprozenthürde geschafft.“ Unter Putin sei das auch nicht weiter überraschend. „Und der hat schon viele Sünden auf sich geladen. Die meisten KGB-Funktionäre sitzen doch wieder auf hohen Posten.“

Sehnsucht nach der Sowjetzeit? „Den alten Menschen bei uns geht es sehr schlecht“, sagt Nikolai Generalow, „aber wenn sie immer von früher schwärmen, frage ich mich: Haben sie vergessen, dass man damals für alles stundenlang Schlange stehen musste?“ Er blickt auf die Uhr, gleich wird er abgelöst, und angelt aus einem kleinen Schränkchen einen Apfel. Anders als die gut zahlenden Touristen erhalten die Angestellten nur zwei Mahlzeiten pro Tag. „Bei uns gibt es ein Sprichwort“, sagt Nikolai Generalow und grinst. „Morgens sollst du sehr gut essen, mittags gut und die dritte Mahlzeit, die gibst du deinem Feind.“

Der Koch und die riesigen Fleischtöpfe

Der ist schon im Anmarsch. Denn gerade ertönt über Bordfunk der Ruf zum Abendessen, und das ausgehungerte Volk marschiert in Richtung Speisewagen. Dafür, dass jeder Mitreisende mindestens zwei Kilo schwerer von der Reise nach Hause kommt, tut Michail Buburjanow sein Bestes. Denn hier im Küchenwagen führt er das Regiment. Eingekeilt zwischen Kartoffelsäcken, Kohlköpfen, Platten mit mariniertem Fleisch und mehreren Frauen, die unverdrossen gegen Berge von schmutzigem Geschirr ankämpfen, jongliert Michail Buburjanow geschickt mit Töpfen und Pfannen.

„Braten und gebraten werden“ heißt die Devise, denn die Temperatur dürfte so um die 40 Grad betragen. „Sie müssten mal im Sommer mitfahren, da haben wir locker noch mal zehn bis fünfzehn Grad mehr“, sagt er und lacht. Dabei rinnt ihm der Schweiß über das Gesicht und tropft auf den Kragen der nicht mehr ganz so weißen Jacke.

Gemeinsam mit einem Kollegen zaubert Michail Buburjanow hier jeden Tag – allen Widrigkeiten zum Trotz – drei mehrgängige Menüs für rund 85 Personen. In der Tageskarte liest sich das dann unter der Rubrik „Mittagessen“ wie folgt: Hering im Pelzmantel, Ukrainischer Borschtsch, Schweinefleisch „Wolgaschiffer“ mit Pilzen, Gemüse der Saison, Dessert. Das Menü hält, was die Ankündigung verspricht – sogar an kreativen Dekorationen der einzelnen Gänge in Form von unterschiedlichen Kräutern und Sahnehäubchen mangelt es nicht.

Gekocht hat Michail Buburjanow sein ganzes Berufsleben lang. Den Tadschiken, der in Duschambe – der Hauptstadt von Tadschikistan – geboren wurde, verschlug es 1973 nach Moskau, „weil ich dort meinen Wehrdienst ableisten musste“. Dort blieb er, heiratete und arbeitete als Koch in verschiedenen Hotels und Restaurants. Seit einem Praktikum in der Schweiz, im alten „Orient-Express“ vor einigen Jahren kocht der mittlerweile 50-Jährige Essen auf Rädern im Akkord.

„Das Problem heute ist, dass meist nur junge Köche eingestellt werden“, sagt er. „Doch die verstehen nichts vom Handwerk. Sie kennen die goldenen Regeln des Kochens nicht.“ Die behält Michail Buburjanow natürlich für sich, lässt sich dann aber doch noch ein Rezept entlocken, und zwar den „Salat russische Schönheit“. Man nehme für vier Portionen: 50 Gramm Schinken, 50 Gramm frische Gurke sowie die gleiche Menge Hühnerfleisch. Des Weiteren 50 Gramm Schnittkäse, einen Apfel mittlerer Größe, zwei gekochte Eier und Mayonnaise nach Bedarf. Nicht zu vergessen: eine kunstvoll drapierte Orangenscheibe als Krönung.

Tagsüber hält sich Michail Buburjanow mit grünem Tee fit, zum Essen ist nur abends etwas Zeit. „Aber ich esse nur wenig Fleisch, denn man soll die Tiere achten“, sagt er. Wahrscheinlich hat Michail Buburjanow deshalb ein Herz für Vegetarier, zu deren Entsetzen am folgenden Tag wieder massive Fleischkost auf dem Speiseplan steht. „Ich mache etwas extra für Sie“, sagt er, „und zwar Quarkküchlein.“ Am nächsten Tag stellt der Kellner einen Teller mit fünf goldgelb gebräunten Minipfannkuchen auf den Tisch. „Von Michail“, raunt er mit einem Augenzwinkern.

Der Barkeeper und die Wodkaprobe

Satt und selig treten die Reisenden nach eingenommener Mahlzeit den Rückweg zu ihren Abteilen an. Wer im Nostalgiewagen logiert, muss an ihm vorbei. Er, das ist Oleg Beschanow, als Barkeeper Herr und Gebieter über den Salonwagen – die einzige behagliche Zufluchtstätte für Raucher, die ansonsten nur am Ende der Waggons schockgefrostet ihre Kringel gegen die eisblumenverzierten Fenster blasen dürfen.

Schon frühmorgens, wenn die ersten Gäste noch etwas verschlafen zum Frühstück tappen, steht Oleg Beschanow erhobenen Hauptes – das Haar streichholzkurz geschnitten, in einem perfekt sitzenden Anzug nebst blütenweißem Hemd und schwarzer Fliege – hinter dem Tresen. Da steht er um 1 Uhr nachts immer noch, bis auch der Letzte schließlich das Feld räumt. „15 bis 16 Stunden auf den Beinen, das ist die Regel“, sagt er. „Bei so einer Fahrt verliert man schon mal um die zehn Kilo.“

Doch offensichtlich macht ihm sein Job Spaß – zumindest seit einigen Jahren. Da stieg der gelernte Techniker, der seit 1980 bei der russischen Bahn Dienst tut, auf die Sonderzugreisen mit Touristen um. „In diesem Zug findet der Service auf höchstem Niveau statt, und das gefällt mir“, sagt er. „Außerdem arbeitete ich gerne mit Menschen.“

Langeweile? Routine? „Keine Spur“, sagt Oleg Beschanow, der mittlerweile schon 15-mal am Baikalsee war und dort immer wieder etwas Faszinierendes entdeckt. Offensichtlich nicht nur dort. „Keine Reise ist wie die andere, jede ist ein ganz eigener Prozess“, sagt er. „Bei den Gästen gibt es Tränen und Freude. Doch meist überwiegt bei ihnen die Freude, und dann freue ich mich mit ihnen.“

Da öffnet sich die Tür, und die ersten Absolventen der Wodkaprobe betreten den Salonwagen, sich immer an der Wand entlangtastend und sichtlich darum bemüht, das Gleichgewicht zu halten. „Die Wodkaprobe, das ist der Höhepunkt jeder Reise“, flüstert Oleg Beschanow, obwohl die meisten Touristen ihn ohnehin nicht verstehen. „Die Leute gehen rein, und dann ist es sehr interessant zu beobachten, wie sie wieder rauskommen. Besser als jedes Kino“, fügt er hinzu und lacht. Zu besagter Verkostung werden die Gäste am Nachmittag in den Speisewagen gebeten. Dort warten auf jedem Tisch bereits mehrere Viertelliterflaschen mit dem kostbaren Wässcherchen.

Dank des hochprozentigen Gelages ist dieser Tag für den Barkeeper zwei Stunden kürzer als sonst. Und dennoch – sichtlich erschöpft wischt er den letzten Tisch ab. „Am wichtigsten ist mir, dass es meiner Familie gut geht“, sagt Oleg Beschanow. „Vor allem um meinen Sohn mache ich mir Sorgen. Früher war die Ausbildung wenigstens umsonst, aber heute muss für alles bezahlt werden.“

Der Arzt und aufgebrauchte Reserven

Kaum hörbar hat ein Mann den Waggon betreten. Schnell huscht er durch den Waggon, nickt seinem Kollegen kurz zu und wünscht eine gute Nacht. „Das ist Juri“, sagt der Barkeeper, „unser Arzt hier an Bord.“

Juri Golubew bewohnt ein Abteil im vorderen Teil des Zuges, das gut sichtbar mit einem roten Kreuz gekennzeichnet ist. Der hoch gewachsene, feingliedrige Mann wirkt etwas schüchtern, spricht leise, langsam und gut artikuliert. Vor ihm aufgeschlagen liegt ein Buch in deutscher Sprache, „Tolstoi – Kalender der Weisheit“, das Zitate berühmter Autoren enthält. Er weist auf ein chinesisches Sprichwort: „Ehrlichkeit ist die einzige Währung, die überall im Umlauf ist.“ – „Deutsch lesen kann ich, aber nicht sprechen“, sagt Juri Golubew, und es klingt fast etwas entschuldigend. „Meine Frau hat es mir beigebracht, sie ist Dolmetscherin.“

Seine Frau war es auch, die ihm vor vier Jahren den Kontakt zu dem Sonderzug für Touristen vermittelte, wo sie als Übersetzerin arbeitete. Dies ist Juri Golubews fünfte Fahrt. Nach seinem Medizinstudium arbeitete er zunächst einige Jahre in einem ukrainischen Dorf, wo er 6.000 Menschen betreute. Die schlimmste Erfahrung für ihn war, als gleich drei Familien innerhalb weniger Tage an einer Pilzvergiftung starben, erzählt er. Just in dem Moment ertönt über Bordfunk die Stimme des Chefreiseleiters: „Sehen Sie mal aus dem Fenster. Hier in dieser Gegend kann man im Herbst herrliche Pilze sammeln.“

Nach mehrjähriger Tätigkeit als Anästhesist in einem Gebietskrankenhaus in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew zog Juri Golubew 1981 wegen seiner Frau nach Puschkino – einen kleinen Ort nicht weit von Moskau. Zurzeit arbeitet er als Internist und Therapeut in einem Internat für behinderte Kinder. Das stellt ihn jedes Mal frei, wenn der Sonderzug wieder auf Reisen geht. „Wirtschaftlich hat sich für mich nicht viel verändert“, sagt der 51-Jährige. „Heute geht es 95 Prozent der Bevölkerung schlecht, nur eine kleine Gruppe profitiert von den Veränderungen.“ Doch die Gesellschaft sei offener geworden, man erfahre viel über andere Länder und Kulturen.

Und die Medizin? „Früher war sie umsonst, aber schlecht“, sagt Golubew. „Wer heute eine gute Behandlung will, muss viel bezahlen, und dieses Geld haben viele Menschen nicht.“ Andererseits gebe es Medikamente und Instrumente, die früher nicht aufzutreiben gewesen seien. Juri Golubew holt ein kleines Gerät aus der Tasche, einen Stimulator, mit dem elektromagnetische Felder erzeugt werden. Berührt er die Haut, kribbelt es leicht.

In der Regel muss Juri Golubew auf den Reisen nur leichte Erkrankungen kurieren. Doch es kann auch anders kommen. Einmal fiel eine 70-jährige Touristin vom oberen Bett so unglücklich auf den Tisch, dass sie sich eine Rippe brach. Ein Reiseteilnehmer brach auf dem Bahnhof von Kasan tot zusammen. „Dieser Mann hatte Prostatakrebs im Endstadium. Er war selbst Arzt und wusste um seinen Zustand. Aber es war sein großer Traum, noch einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren“, sagt der Mediziner.

Bei dieser Reise ist er noch unbeschäftigt. Doch das dürfte sich bald ändern. „Krankheiten treten meistens erst nach fünf, sechs Tagen auf. Dann lassen die Abwehrkräfte nach, und die Reserven aus Deutschland sind aufgebraucht“, sagt Juri Golubew. An diesem Tag hat er seinen ersten Einsatz: Eine Frau hat sich den Fuß verstaucht. Noch gibt es offensichtlich Reserven …