: Das Gesicht der Blockade
Das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst nähert sich mit einer Ausstellung dem Massensterben während der Belagerung Leningrads 1941–1944
VON WIBKE BERGEMANN
Es klingt zynisch. Und dennoch ist es erstaunlich, dass nicht noch mehr Einwohner Leningrads während der Belagerung der Stadt 1941–1944 verhungerten: Nachdem die Wehrmacht die Stadt im September 1941 eingeschlossen hatte, war die Bevölkerung fast vollständig von der Versorgung abgeschnitten. Die Lebensmittelrationen konnten im Winter 1941/42 den lebensnotwenigen Tagesbedarf nicht mehr decken: Ab dem 1. Oktober 1941 erhielt ein Arbeiter nur noch 400 Gramm Brot pro Tag, alle anderen Personen 200. Sonst wurden keine Lebensmittel ausgeteilt. Mindestens 800.000 Leningrader starben an Hunger oder an den Folgen der Unterernährung während der 900 Tage der Blockade. Außerdem wurden 18.000 Zivilisten durch Bomben und Artilleriefeuer getötet.
Dennoch wird dieses Kapitel des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion nur wenig beachtet. Das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst widmet nun bis zum 15. September der Belagerung Leningrads eine umfassende Ausstellung. Mit Fotos, zeitgenössischen Zeichnungen sowie deutschen und russischen Schriftdokumenten versucht die Schau sich dem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu nähern. Dabei ergänzen sich die offiziellen Berichte der Wehrmachtskommandeure und die Feldpostbriefe von Leutnant Heinz E. an seine Frau mit den Tagebuchauszügen des Leningrader Kunsthistorikers Nikolai Punin und den dokumentarischen Zeichnungen des Architekten Jakow O. Rubantschik. Zum ersten Mal wurden auch interne Berichte des Geheimdienstes NKWD aus der Stadt ins Deutsche übersetzt.
Die Ausstellung macht vor allem eines deutlich: Die überwältigende Zahl der zivilen Opfer der Leningrader Blockade war nicht etwa Folge einer tragischen Kriegskonstellation, sondern gehörte zur deutschen Strategie. Zwar gab es noch im September 1941 Pläne zu einer Besetzung der Stadt. Doch im schon im Oktober lautete der eindeutige Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht: „Der Führer hat erneut entschieden, dass eine Kapitulation von der Gegenseite nicht anzunehmen ist. […] Wer die Stadt durch unsere Linie verlassen will, ist durch Feuer zurückzuweisen. […] deren Bevölkerung auf Kosten der deutschen Heimat zu ernähren, ist nicht zu verantworten.“ Das Land sollte als „Lebensraum“ für die deutsche Bevölkerung erobert werden. Der Leiter des Museums Karlshorst, Peter Jahn, fasst zusammen: „Das Massensterben war Teil des geplanten Völkermords an der Bevölkerung der Sowjetunion.“
Für die Bevölkerung hatte diese Methode der Kriegsführung unvorstellbare Auswirkungen. Die Ausstellung zitiert einen Überlebenden: „Eine Folge des Hungers war, wie sich die menschliche Gestalt verändert. Der Mensch verwandelte sich in einen wandelnden Leichnam, und es ist doch bekannt, dass eine Leiche ein furchtbarer Anblick ist. Das gelbe Gesicht, der starre Blick, die krächzende Stimme, ein Wesen, das alters- und geschlechtslos geworden war.“ Die NKWD berichtete von insgesamt 1.025 Personen, die zwischen November 1941 und März 1942 verhaftet wurden, weil sie sich von Menschenfleisch ernährt hatten. Besonders im Februar 1942 häuften sich Fälle von Mord aus Hunger.
Die Bilder der Ausstellung zeigen, wie die Belagerung den Alltag in der Stadt veränderte: Am Narwa-Tor rissen Frauen das Straßenpflaster auf und legten einen Gemüsegarten an. Nach dem Zusammenbruch des öffentlichen Verkehrs im Winter 1941/42 wurden Schlitten zum wichtigsten Transportmittel: für Kübel mit Trinkwasser, für Brennholz, hungergeschwächte Menschen und für die zahlreichen Leichen, die Angehörige zu den Massengräbern auf den Friedhöfen schleppten.
Die Ausstellung im Deutsch-Russischen Museum arbeitet mit russischen und deutschen Dokumenten. In Zusammenarbeit mit Archiven und Museen in St. Petersburg konnte zum Teil unveröffentlichtes Material für die Schau bereitgestellt werden. Neuere russische Forschungsergebnisse fließen mit ein, die erst mit dem Ende der Sowjetunion möglich wurden.
Denn bis zum Ende der Achtzigerjahre gestattete die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung nur ein reduziertes Bild der Blockade: Die Leningrader galten bis auf die wenigen Ausnahmen der Verräter als makellose Helden und Vaterlandsverteidiger. Die Zahl der zivilen Opfer wurde auf 640.000 reduziert. Dem Epos der unverbrüchlichen Einheit von Partei und Volk widersprechen die nun zugänglichen internen Berichte aus dem Überwachungsapparat des NKWD: Der Geheimdienst beobachtete, dass die Bevölkerung zunehmend auf eine Einnahme der Stadt durch die Wehrmacht oder eine Kapitulation wartete, in der Hoffnung, dann ausreichend von den Deutschen versorgt zu werden. So zitiert ein Bericht im März 1942 die Hausfrau Kruglowa: „Unter den Deutschen wird es besser. Unsere Regierenden sorgen nur für sich selbst, auf uns pfeifen sie.“
„In der Erinnerung vieler Leningrader wurde die Stadt von Stalin verraten und sich selbst überlassen“, sagt Peter Jahn. Das Hauptaugenmerk der sowjetischen Führung lag 1941 auf der mittleren Front vor Moskau. Zwar war es auch im Interesse Stalins, Leningrad zu retten. Doch erst nach dem erfolgreichen Gegenschlag vor Moskau war es möglich, die Versorgung der Leningrader Bevölkerung zu verstärken. Im Laufe des Jahres 1942 verbesserte sich die Lage allmählich: Als der Ladoga-See zufror, konnten Lkws über eine Eisstraße Munition und Lebensmittel in die Stadt bringen und auf dem Rückweg Menschen evakuieren. Im Frühjahr 1942 begann dann ein ständiger Schiffsverkehr über den See.
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