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Archiv-Artikel

strafplanet erde: mein leben als spirituosen-rector von DIETRICH ZUR NEDDEN

Wenedikt Jerofejews „Aufzeichnungen eines Psychopathen“, jetzt im Tropen Verlag erschienen, katapultierten mich unwillkürlich zurück in ein früheres Leben, als ich auf meiner postgraduierten Irrfahrt zwei oder drei Jahre lang in einer Sprachschule Station machte, wo ich Aussiedler aus Polen und der Sowjetunion in Deutsch unterrichten sollte. Beim Einstellungsgespräch gab ich der Schulleiterin zu bedenken, dass ein Magister wie ich völlig ungeeignet sei, da ich weder Pädagogik noch Didaktik studiert hätte. Den Einwand beiseite wischend – „Ach wo! Sie können das!“ –, entkorkte sie den zweiten Frühstückspiccolo, und wir begossen meine Aufnahme ins Kollegium. Alkoholkonsum sollte in Variationen ein Leitmotiv werden.

Nach wenigen Wochen sprachen die Schüler aus Karaganda und Alma-Ata, aus Zabrze und Opole nicht viel besser Deutsch als vorher, immerhin auch nicht schlechter. Ich allerdings hatte einiges gelernt: Bier wird nicht als Alkohol gewertet. Zweitens: Im Russischen und im Polnischen wird Flüssiges vorzugsweise in Gramm statt in Litern berechnet, was folgerichtig ist, da es das Fundamentale, das Substanzielle insbesondere alkoholischer Getränke akzentuiert. Drittens ist es empfehlenswert, zu einem Wasserglas voll Wodka ebenso viel Wasser zu trinken.

Eines Tages – wahrscheinlich war irgendwo in der Welt ein Krieg ausgebrochen – kam ein Mann aus Duschanbe, der Hauptstadt der Tadschikischen SSR, auf seine Militärdienstzeit zu sprechen und auf die Versorgung mit Rausch erzeugenden Mitteln. Aus Geldmangel oder aufgrund anderweitiger Engpässe, entnahm ich seiner Schilderung, seien die benötigten Mengen an Spirituosen selten vorhanden gewesen. Die Soldaten hätten deshalb mit abenteuerlichsten Mischungen experimentiert. In diesem Moment ließ das Neonlicht seine zwei oder drei stählernen Schneidezähne aufblitzen, und er fuhr fort: Brennspiritus sei meist die Basis gewesen, außerdem habe man Schuhwichse, Haarshampoo und Rasierwasser für die Herstellung verwendet. Ergänzend zählten einige Mitschüler, die sich ebenfalls auf persönliche Erfahrungen beriefen, weitere gebräuchliche Zutaten auf wie Parfüm, Nagellack, Klebstoff und Poliermittel.

Ich staunte nicht schlecht. Es war nicht lange her, dass Robert Gernhardt auf Jerofejews „Reise nach Petuschki“ hingewiesen hatte. Gleichwohl Jerofejew die Cocktail-Rezepte virtuoser beschrieb und in den gemäßen metaphysischen Zusammenhang einordnete, stellten sie authentische Abbildungen von Wirklichkeit dar, die „Komsomolzenträne“ und der „Kanaanbalsam“, das „Schweinegekröse“ und der „Geist von Genf“ (50 g „Weißer Flieder“, 50 g Antifußschweißpuder, 200 g Shiguli-Bier, 150 g Spritlack). Das war für den Teilhaber an einer Überflussgesellschaft eine so nicht erwartete Nachricht.

Die „Aufzeichnungen eines Psychopathen“ sind ein Tagebuch der Verzweiflung, die in Komik und Rebellion Halt sucht. Jerofejew begann damit als 17-Jähriger, von Cocktails ist darin nicht die Rede. Das macht gar nichts. Es gehört zu den Büchern, für die gilt: „Wenn Sie es nicht zwei Mal gelesen: so haben Sie es nicht ein Mal gelesen.“