: Ein Gang durch die Fantasiebibliothek
Eigentümliche Kenntnisse vermittelt das Kino über Sex: Sie gehen weit über den persönlichen Erfahrungshorizont hinaus, und doch kommen sie nie ganz an ihn heran. Wie will das Kino umgehen mit der Bildressource Sex, seit es sie nicht mehr verknappen muss, sondern verschwenderisch einsetzen darf?
von BARBARA SCHWEIZERHOF
„Gutes Kino vervielfältigt die Lebenserfahrung“, rechtfertigte vor kurzem die Staatsministerin für Kultur, Christina Weiss, ihren Einsatz für die Filmförderung. Die Kinofreaks würden ihr vielleicht schüchtern entgegenhalten wollen, dass schlechtes Kino auf diesem Gebiet manchmal fast die besseren Dienste leistet. Für beide Fälle gilt jedoch: Tatsächlich lernen wir das Leben oder das, was man darunter versteht, zum großen Teil aus dem Kino kennen.
Was das Wissen über Sex und Beziehungen angeht, erfüllt das Kino seine Rolle als „Bewusstseinsindustrie“. Die Muster, auf die sich Menschen beim erzählerischen Strukturieren der eigenen Liebeserfahrungen beziehen, stammen mittlerweile fast immer aus Filmen. „Wie bei ‚Harry und Sally‘ “ ist ein allgemein gültiger Standard der Verständigung. Oft wissen selbst Menschen, die den Film nicht gesehen haben, was gemeint ist.
Doch wer sich etwa, in Ironie noch ziemlich unerfahren, in jungen Jahren erwartungsvoll in Woody Allens „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten …“ geschlichen hat, wird wissen, dass es eigentümliche Kenntnisse sind, die das Kino über Sex vermittelt. Einerseits gehen sie weit über den persönlichen Erfahrungshorizont hinaus, andererseits kommen sie nie ganz an ihn heran. Bei aller äußeren Ähnlichkeit mit dem wahren Leben führt der Sex im Kino eine irritierende Eigenexistenz: Es gibt Szenen, die aus den Filmen, in denen sie vorkommen, mit der Zeit völlig herausfallen, den Kopf besetzen und sich dort zur Fantasiebibliothek ansammeln.
Ein kleiner Rundgang durch diese Bibliothek zeigt schnell, dass sie sich aus sehr heterogenem Material speist: Da sind die ersten, noch schockhaften Erlebnisse, Szenen aus Filmen, für die man eigentlich zu jung war, die man deshalb mit umso größerer Gier betrachtete, gleichzeitig unfähig dazu, das Gezeigte, die Nacktheit, den angedeuteten Akt, durch den erzählerischen Kontext einzuebnen oder zu verdauen.
Dann gibt es die „Klassiker“; jene Szenen, deren Einordnung schon durch einen gewissen Diskurs gesichert war. So betrat man das Kino für „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ im Bewusstsein, dass man gleich eine Qualitätssexszene zu sehen bekommen würde. Alltäglich, beiläufig, ästhetisch, dazu noch ein Ehepaar beim Sex – das hatte sich herumgesprochen. Tatsächlich ist Julie Christies und Donald Sutherlands Hotelzimmer-Szene eine der weniger verstörenden Sequenzen, weil in ihr etwas über das Verhältnis des Paares erzählt wird – ohne dass die beiden ein Innerstes durch Ekstase nach außen kehren müssten. Schnitt und Montage, die die beiden nackten Körper mit Szenen, in denen sie sich getrennt wieder anziehen, verbinden, nehmen ihnen sozusagen die Last des Ausdrucks ab.
Auch für „Der letzte Tango in Paris“ betrat man das Kino bereits mit einer Menge Diskursstoff im Kopf. Allerdings war der schon ungeordneter. Darüber, was man im „Tango“ zu sehen bekam, war ganz offensichtlich nicht so leicht zu reden. Das Rohe, der existenzielle Ernst, mit dem hier über Sex und Tod verhandelt wird, vermag immer noch zu verstören. Denn es gibt keinen Erzählfluss, der einen wegführen könnte von der dargestellten Gemengelage aus Lust und Verzweiflung. Vielleicht ist es ja gerade das weniger Kunstvolle, das „Schlechte“ an diesem Film, das ihn immer wieder in Einzeleindrücke zerfallen lässt.
Den Diskursüberblick zu behalten war bei Nagisa Oshimas „Im Reich der Sinne“ wiederum einfacher, weil das exotische Moment eine Distanz ermöglichte. Für die Zeit danach muss man schon länger suchen in der Fantasiebibliothek, um etwas zu finden, was vergleichbaren Eindruck gemacht hat. Weder „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ noch „9[1]/2 Wochen“, noch „Basic Instinct“ können mithalten – was aber auch daran liegen kann, dass die eigene Seherfahrung mit den „Klassikern“ ihren Ausgang nahm und alles, was danach kam, bereits mit mehr Routine betrachtet werden konnte.
Von seiner Geburtsstunde an gibt es im Kino diese zwei Wucherungen, die offenbar im Zaum gehalten werden müssen: Sex und Gewalt. Die oft belachten Selbstzensur-Regeln des Hays-Codes („No picture shall be produced which will lower the moral standards of those who see it“) werden heute meist als überflüssige, durch puritanische Kleinlichkeit sich selbst entblößende Einschränkung künstlerischer Freiheit betrachtet. Man kann es aber auch anders darstellen: Der „Production Code“, der etwa die Länge eines Kusses auf maximal drei Sekunden beschränkte und Nacktheit völlig ausschloss, erfüllte zugleich die Rolle eines Gralshüters, der die Hauptattraktion des Kinos, seine stärksten visuellen Reize, durch künstlich niedrig gehaltene Dosierung zu bewahren versuchte. Die Verpflichtung auf einen äußerst sparsamen Umgang mit den Bildressourcen von Sex und Gewalt hatte, systemtheoretisch gesehen, einen durchaus ökologischen Sinn.
Anfang der Siebziger wurde der Code in Amerika durch ein Altersklassen-Rating ersetzt, wie es auch in Deuschland durch die FSK praktiziert wird. Dessen oberste Kategorie lautet heute „NC-17“ („No children under 17 admitted“) und ist eine von Produzenten erbittert umkämpfte Grenze. Die Chancen eines Hollywood-Films, sein Geld einzuspielen, werden durch ein NC-17-Rating nämlich erheblich gemindert, da viele Kinohäuser es ablehnen, diese Filme überhaupt zu spielen, und viele Zeitungen keine Anzeigenwerbung für sie zulassen. Die großen Firmen sind daher zu vielen Eingriffen bereit, um dieses Rating, das das berüchtigte X-Rating ersetzt hat, zu vermeiden.
Einem landläufigen Vorurteil zufolge wird Sex bei diesen Ratings stets strenger bewertet als Gewalt (und in jeder „Gewalt in den Medien“-Diskussion gibt es jemand, der darauf hinweist, dass sich dahinter eine besondere Heuchelei verberge). In Europa hält man sich in dieser Hinsicht gerne für liberaler (und weist mit Stolz darauf hin, dass europäische Filme in den USA fast generell das NC-17-Rating bekommen). Wenn die Amerikaner schon die dominante Filmkultur haben, glaubt man sich im Bereich der erotischen Freizügigkeit hier den amerikanischen „Doublestandards“ überlegen.
Lässt man einmal den Amerikanern ihren lustfeindlichen Puritanismus und den Europäern ihre gediegene Libertinage einfach als historisch verwurzelte Tatsachen, stellt sich die Frage, nach welchen Maßstäben Gewalt und Sex im Kino überhaupt zu vergleichen wären. Es fällt ins Auge, dass sich an beide „Wucherungen“ jeweils sehr unterschiedliche Diskurse angeschlossen haben. Im Falle der Gewalt kreist alles um die Frage der Nachahmungsgefahr. Beim Thema Sex geht es darum nur in Einzelfällen (und wenn, dann meist in der Kombination mit Gewalt). In gewisser Hinsicht ist es ein zeitlicher Unterschied: Fürchtet man bei Gewaltszenen die Wirkungen, die das Kino in den Köpfen entfaltet, nachdem die Zuschauer das Kino verlassen haben, ist es beim Sex die unmittelbare Reaktion auf das aktuell Sichtbare, die man reglementieren möchte. Bei Gewaltszenen wird über ihren „impact“ verhandelt, über ihre Stärke und ihre Grausamkeit. Bei Sexszenen sind es heute meist Kontextfragen: Sind sie in der Geschichte eingebunden? Wird die Menschenwürde verletzt?
Mit diesen Fragen ist man bei der Abgrenzungsdebatte zur Pornografie angekommen, was ein eher langweiliger Winkel der Diskussion ist, weil es dabei schnell auf eine Art Warenkennzeichnungspflicht-Debatte hinausläuft. Sex im Kino ist jedoch genau da interessant, wo er sich nicht etikettieren lässt, umfasst er doch weit mehr als nur entblößte Körper und Bettszenen. Wie überhaupt Sex ein schillernder Begriff mit Tendenz zur Verflüchtigung ist. Als „erotisch“ angekündigte Filme erweisen sich meist als völlig unerotisch, während einige der aufregendsten Sexszenen der Kinogeschichte in ganz genrefremdem Material auftauchen. Es gibt Filme, die von nichts anderem als Sex handeln und dabei ohne jede explizite Entblößung auskommen. Das jüngste Beispiel dafür ist vielleicht Paul Schraders „Auto Focus“, in dem es um die Sexbesessenheit des TV-Serien-Helden Bob Crane geht. Ohne an irgendeiner Stelle verschämt zu wirken, bleibt Schrader ganz bei der Perspektive des Meta-Betrachters. Man sieht einer Sexbesessenheit zu, ohne darin involviert zu werden. Der Überdruss an den expliziten Bildern ist sozusagen schon mit inszeniert.
Die Werbeflut im Internet (deren Bekämpfung dazu führt, dass mich mein E-Mail-Programm bei Versendung dieses Textes davor warnt, er könne nicht willkommen sein) und die Dauerpräsenz der Telefonsexreklame im Fernsehen haben eine Reizüberflutung geschaffen, die auch für das Kino nicht ohne Folgen bleiben kann. Während die einen die Austreibung der Erotik beklagen, versuchen andere, die durch den Tabubruch geschaffenen Möglichkeiten zur expliziten Darstellung neu zu nutzen. „Sage mir, wie du Sex filmst, und ich sage dir, was für eine Art Regisseur du bist“, warf etwa Catherine Breillat in die Diskussion, als in Frankreich im letzten Jahr nach Filmen wie „Irreversible“, „Baise-moi“, „Romance“, „Demonlover“, „Le Pornographe“ und „Intimacy“ von der „Invasion des Sex“ die Rede war.
„Sex is comedy“ heißt ein Breillat-Film. Man muss den englischen Titel französisch hören – gemeint ist nicht etwa die neudeutsche „Comedy“, sondern „Komödie“ im Sinne von Spiel und Inszenierung. Das große Interesse an den cineastischen Darstellungsformen von Sex hat genau damit zu tun: dass hier Authentizität und Inszenierung so nahe zusammenkommen, so schwer voneinander zu trennen sind. Vielleicht eröffnet sich ja in den Zeiten, in denen die Bildressource Sex nicht mehr durch künstliche Verknappung geregelt werden kann, ein neues Terrain, das bislang im Kino nur wenig genutzt wird: nämlich Sex nicht nur als Chiffre für Liebe, Ekstase, für Kinomythen zu benutzen, sondern präziser zu werden, mehr Lebenserfahrung hineinzubringen.