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Archiv-Artikel

Das Experiment des Dr. Ypsilon

Neue Erkundungen am Ende der Welt: Was man am Traumstrand wirklich träumt

Es war einer dieser Scheißtage, und diese Mail hatte mir gerade noch gefehlt. „Lieber Christian Y.“, schrieb mir der Redakteur, „vielen Dank für Ihre Reisereportage. Leider können wir sie nicht drucken, da Sie das falsche Vokabular benutzen. Das richtige lautet: unverfälschte Natur, kristallklares Wasser, atemberaubende Aussicht, Wellness-Angebot, reichhaltiges Buffet und Traumstrand.“

Ich war sofort auf hundertachtzig. Ich bin nämlich der festen Überzeugung, dass jeder Autor, der auch nur eine von diesen Wortkombinationen benutzt, lügt, spinnt und im Interesse eines harmonischen Zusammenlebens der Menschheit sofort erschossen werden muss. Traumstrand zum Beispiel. Was soll das sein? Am ehesten doch ein Strand, von dem man träumt. Aber tut das wirklich jemand? Ich zum Beispiel träume von Meerschweinchen in Fräcken, Frauenbrüsten und akademisch gebildeten Okraschoten, aber nie, niemals von so etwas Einfältigem wie einem Strand. Ich bin sogar davon überzeugt, dass das nicht geht.

Ich beschloss, diese Tatsache ein für alle Mal zu beweisen und so wenigstens diese elende Metapher aus der Welt zu schaffen. Zu diesem Zweck wollte ich an einen dieser so genannten Traumstrände fahren und dort mindestens eine Woche lang ausharren. Wenn es der Strand selbst nach sieben Tagen nicht geschafft hätte, sich einen Weg in meinen Traum zu bahnen, sollte für mich und die Welt die Nichtexistenz von Traumstränden eindeutig bewiesen sein. Als Versuchsort wählte ich die große Perhentian-Insel vor der Ostküste Malaysias. Einerseits vermutet die einschlägige Reiseliteratur hier sogar den „absoluten Traumstrand“. Andererseits zog mich der Name an. „Pulau Perhentian“ heißt auf Deutsch nichts anderes als „Haltestelleninsel“.

Tatsächlich war Groß-Perhentian für mein Vorhaben perfekt geeignet. Palmen wiegten sich im Wind, das Wasser war warm, klar und so blau wie der Himmel, und jeder Strand, dem ich mich näherte, schrie schon von weitem: „Los, träume mich, sofort!“ Ohne zu zögern begann ich mit meinem schwierigen Experiment. Ich holte mir an der Strandbar einen Cocktail, legte mich auf meine Matte und döste in der Sonne. Später schwamm ich zur nahe gelegenen Korallenbank und schnorchelte zwischen tausenden von bunten Fischen. Dann legte ich mich wieder in den warmen Sand und fixierte für die nächsten Stunden ein Bündel gelber Kokosnüsse am Ende einer schlanken Palme.

Am Abend legte ich mich in einer Strandhütte zur Ruhe. Das eintönige Plätschern der Wellen ließ mich schnell in den Schlaf sinken. Irgendwann begann ich auch zu träumen. Vom Strand? Ach was. Ich traf im Traum einen alten Freund. Er saß in einem Spielkasino vor einem einarmigen Banditen und bat mich flehentlich, ihm seine Kreditkarte abzunehmen. Mich wunderte die Bitte wenig, denn auch im wirklichen Leben kannte ich ihn als Mann mit finanziellen Problemen.

Die nächsten Tage verbrachte ich genauso wie den ersten. Und auch mein nächtlicher Traum unterschied sich kaum. Nur das, was mir mein verzweifelter Freund im Kasino anvertraute, war jede Nacht was anderes: mal war’s die Brieftasche, mal eine teure Armbanduhr, und mal waren es seine Hoden.

Ha, dachte ich, da habt ihr’s. Von wegen Traumstrand. Alles Humbug. Dann kam die allerletzte Nacht, und plötzlich war der Traum ein anderer. Er spielte in den Siebzigerjahren und handelte von der RAF. Die RAF-Mitglieder machten zwischen zwei Anschlägen immer wieder gern Urlaub auf den Haltestelleninseln; seltsamerweise aber nur die so genannte zweite Generation. Ich träumte also von Christian Klar, Knut Folkerts, Adelheid Schulz und wie sie alle hießen. Sie schlürften Cocktails, schwammen zu nahe gelegenen Korallenbänken, schnorchelten zwischen Fischen, lagen im warmen Sand und fixierten …

Verdammt, da war der Scheißstrand. Das war bitter. Ich musste mir eingestehen, dass ich falsch gelegen hatte. Hm, aber offenbar träumt man an Stränden von Stränden nur in Verbindung mit Terroristen. Warum? Keine Ahnung. Dafür weiß ich, was in der nächsten Mail steht: „Lieber Christian Y. vielen Dank für Ihre Reisereportage. Leider können wir sie nicht drucken. Wörter wie ‚Terrortraumstrand‘ oder ‚RAF-Dreambeach‘ gehören nicht zum Wortschatz unserer Redaktion.“

CHRISTIAN Y. SCHMIDT